Verstehen heißt, das Ritual zu ruinieren

Der Leopard und die Love Parade: Professor Gerhard Neumann führte die Mosse-Lectures fort und widmete sich dem großen Franz K. als Ethnologen – seiner Auffassung vom Wilden, das durch Rituale in die Kultur eingebürgert wird

Im Senatssaal der HU sehen die Humboldtbrüder auf uns herab. Alexander greift sich ins Revers, man könnte meinen, er würde gleich eine Waffe ziehen. Hier bieten einem die Mosse-Lectures die Gelegenheit, als Universitäts-Karteileiche wieder einmal Tuchfühlung mit dem akademischen Betrieb aufzunehmen. Wenn man lange nicht an der Uni war, wird man schnell von ganzen Straßenzügen überrascht, die inzwischen neu entstanden sind. Und auch, dass man die an die Wand projizierten Folien schon nicht mehr scharf sieht, registriert man besorgt.

Professor Gerhard Neumann widmet sich heute Kafka als Ethnologen. Statt Diskursen galt Kafkas Faszination „den wortlosen Rätseln von Handlungen und Körperakten“. Rituale setzen kulturelles Wissen in Szene und leisten eine strukturelle Bindung des Überschusses an Gewalt, zu dem es bei jeder Ordnungsgründung kommt. „Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer. Das wiederholt sich immer wieder, schließlich kann man es vorausberechnen und es wird ein Teil der Zeremonie.“ Das Wilde wird durch das Ritual in die Kultur eingebürgert. Man denkt unwillkürlich an den Kreuzberger 1. Mai, wo das Erscheinen der Steinewerfer vorausberechnet werden kann, wo Polizisten und Steinewerfer eine Art urbane Performance aufführen, von der später, wie beim Stierkampf, nicht mehr klar sein wird, was ihr ursprünglicher Sinn war.

Immer wieder sind Kafkas Erzähler Ethnologen. In „Schakale und Araber“ wird ein europäischer Reisender von Schakalen gebeten, den Arabern die Kehle durchzuschneiden, das sei ein altes Erlösungsritual und er der Erlöser. In „Der Dorfschullehrer“ erforscht ein Lehrer einen Riesenmaulwurf und scheitert am Ritual wissenschaftlicher Aufmerksamkeit in der Gelehrtenwelt. In „Ein Bericht für eine Akademie“ rekonstruiert ein Affe seine kulturelle Karriere, die in seiner Menschwerdung besteht. Seine Erinnerung setzt ein mit dem Schmerz, den die Schüsse von Hagenbecks Mitarbeitern verursacht haben. Der Übergang ist der Ausnahmezustand. Fortan ist er ein Ethnologe des radikal fremden, der menschlichen Kultur. „In der Strafkolonie“ zeigt einen Forschungsreisenden, der den Untergang der rigoristischen Strafordnung des verstorbenen Kommandanten einer Tropeninsel beobachtet und verschwindet, als es gefährlich wird. Das Paradox des teilnehmenden Beobachters. Verstehen in der Distanznahme und Ruinieren des Rituals. Das Ritual hört auf, eines zu sein, wenn der Teilnehmer zum Beobachter wird. Aber andernfalls gibt es keine Zeugen. Man kennt diese Erfahrung von der Love Parade. Man kann nicht die Peinlichkeit der Bewegungen der Tänzer bezeugen und gleichzeitig Teil des Rituals sein.

„Ein Hungerkünstler“ widmet sich dem Artistenritual des Schauhungerns. Als der Künstler die übliche Hungerzeit überzieht, bleiben die Erfolge aus. Er wird weggestellt und schließlich aus dem Käfig gefegt und durch einen jungen Panther ersetzt. Die Negation, das Hungern, als Organ der Welterfahrung. Sein Ritual stiftet nicht kulturellen Sinn, sondern schließt ihn aus der Gesellschaft aus. Darin sieht Professor Neumann eine Absage an die Tradition der Ästhetik einer symbolisierenden Kunst. Kafkas Rituale sind nicht Etablierung von kultureller Ordnung, sondern zeigen eine Wunde.

Dem Vortrag schließt sich das Ritual der Zuhörerdiskussion an. Wie üblich gibt es zunächst eine peinliche Pause. Dann hört man die Fragen, versteht die Antworten nicht ganz und formuliert im Kopf eigene Fragen, die man nie stellen wird. Man denkt an die feinen, tröstlichen Rituale, in die Sophie Calle ihre Alltagsexistenz einspinnt. Haben wir eigentlich noch ein Leben jenseits von Ritualen? Es fängt ja mit dem Morgenkaffee an. Und wie kommt es, dass der ethnologische Blick auf die eigene Gesellschaft heute Teil der Massenkultur ist, von „Star Trek“ bis „Mork vom Ork“?

Aber der Sinn der Universität ist es ja auch, das Gefühl der intellektuellen Unruhe zu entfachen. Das einsehend, macht sich der teilnehmende Beobachter des akademischen Wahrheitsrituals aus dem Staub und wirft im Foyer der HU einen Blick auf die Schautafeln. Zurzeit stellen sich hier die Rehabilitationswissenschaften vor. Es geht um „Tasten, Lernen, Orientieren, Rehabilitieren“, und man überlegt, bei welcher dieser Tätigkeiten man nach Jahren des Studiums angekommen ist. JOCHEN SCHMIDT

Am 15. Juni folgt der dritte Vortrag der Mosse-Lectures: Elizabeth Boa zum Thema „Das Unheimliche bei Kafka: Bilder der Lust und des Grauens“