Das falsche Signal

Die türkische Regierung unterminiert mit ihrer Armenienpolitik nicht nur alle Versuche, Genozide zu ächten. In Istanbul unterdrückt sie zudem gerade konkret die Freiheit der Geschichtswissenschaft

Die Bedeutung des Völkermords an den Armeniern geht weit über das Geschehene hinaus

VON JÜRGEN ZIMMERER

Es hätte ein Meilenstein werden können in der Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern vor 90 Jahren. Drei große türkische Universitäten luden vom 25. bis 27. Mai zu einer Tagung an die Bosporus Universität nach Istanbul, um über das Thema „Osmanische Armenier während des Niedergangs des Reichs. Fragen wissenschaftlicher Verantwortung und Demokratie“ zu sprechen und um der offiziellen staatlich-türkischen Sichtweise die differenzierte türkischer Wissenschaftler entgegenzusetzen. Statt eines eindrucksvollen Beweises der Modernität und Offenheit des EU-Beitrittskandidaten wurde daraus ein Fanal der Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

Wenige Stunden vor der Eröffnung der Konferenz gaben die einladenden Universitäten die Verschiebung der Tagung auf unbestimmte Zeit bekannt. Zu groß war offenbar der politische Druck geworden, in der sich Justizminister Cemil Cicek selbst demaskierte, indem er die Konferenzteilnehmer als Verräter beschimpfte, die einen Dolchstoß gegen die Türkei führten. Drohungen, man wolle alle Vorträge vorher einsehen und auf deren strafrechtliche Relevanz prüfen – in der Türkei steht die Behauptung, es habe einen Völkermord an den Armeniern gegeben, unter Strafe –, taten offenbar ihr Übriges, um die Verantwortlichen dazu zu bewegen, die Tagung abzusagen.

Der Europafähigkeit der Türkei stellt dies fürwahr kein gutes Zeugnis aus und gießt Wasser auf die Mühlen der Gegner eines türkischen EU-Beitritts. Vor allem aber, und darin liegt mit die zentrale Bedeutung des Völkermords an den Armeniern und die Debatte darüber, unterminiert es jegliche Versuche der internationalen Staatengemeinschaft, Genozid zu ächten und durch die Bestrafung der Verantwortlichen abzuschrecken.

Dabei gehört der Genozid an den Armeniern, als deren Beginn die Verhaftung und anschließende Ermordung armenischer Intellektueller am 24. April 1915 in Istanbul gesehen wird, zu einem der bekanntesten Menschheitsverbrechen der Weltgeschichte. Ein jungtürkisches Triumvirat bestehend aus Innenminister Talaat, Kriegsminister Enver und Marineminister Djemal nutzte die Situation des Ersten Weltkriegs, um ihre neuen Ideen von Nationalismus und ethnischer Homogenität umzusetzen und die christliche Minderheit der Armenier zu ermorden. Schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden erschossen, auf Todesmärschen ermordet, vergewaltigt, und verstümmelt. Viele mehr wurden beraubt, enteignet, als Kinder ihren Eltern entrissen und in türkische Familien gegeben, um sie zu „guten Türken“ zu machen.

Schon von Zeitgenossen wurde die Ermordung der Armenier – nur zehn Jahre nach dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika geschehen – öffentlich als Menschheitsverbrechen eingeschätzt. Die Moderne, deren Fortschrittsversprechen zeitgleich auch in den Schützengräben von Versailles zerfiel, zeigte hier in besonderer Weise ihr destruktives Potenzial. Denken in rassischen Kategorien, ethnische Reinheitsvorstellungen und radikaler Nationalismus speisten sich schließlich zum nicht geringen Teil aus Ideen der Aufklärung.

Im Unterschied zum südwestafrikanischen Genozid empörten sich über den Völkermord an den Armeniern bereits die Zeitgenossen. Denn hatte man den kolonialen Vernichtungskrieg im späteren Namibia noch als „normales“, wenn auch etwas „hartes“ Vorgehen gegen „Wilde“ angesehen – nach den Worten des deutschen Schutztruppenkommandeurs Lothar von Trotha ließ sich der Krieg in Afrika nun mal nicht nach den Gesetzen der Genfer Konvention führen –, so war mit Armenien rassistisch motivierter Massenmord schon sehr nah an Europas Grenzen gekommen. Was vielleicht noch schwerer wog: War der Kolonialkrieg ein Krieg gegen das andere, gegen das sprichwörtlich „schwarze“ Gegenbild Europas, ausgefochten auf dem „dunklen Kontinent“, so galten die Armenier als urchristliches Kulturvolk. Zudem wandte sich im Falle Armeniens die Mehrheitsbevölkerung gegen eine unter ihr lebende Minderheit, eine Regierung gegen Teile ihres Volkes.

Frühzeitig wurde deshalb auch der Vergleich zum Holocaust herangezogen, der sich ebenfalls gegen – nur durch ihre Religion unterschiedenen Teile – der eigenen Bevölkerung wandte. Als einer der ersten betonte der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der „Vater der Genozidkonvention“, diesen Zusammenhang. Er war schon in den Zwanzigerjahren auf Grund von Berichten über die Massaker an den Armeniern zu dem Schluss gekommen, dass das Strafrecht um den Tatbestand des rassistisch oder religiös motivierten Mordes erweitert werden müsse. Besonders erboste ihn, dass türkische Kriegsverbrecher nicht für ihre Vergehen bestraft wurden.

„Warum ist das Töten einer Million Menschen ein geringeres Verbrechen als das Töten eines einzelnen Menschen?“, fragte er in seiner Autobiografie. 1933 schlug er deshalb vor, ins internationale Strafrecht den Tatbestand des „Vandalismus“ und der „Barbarei“ aufzunehmen, wobei Ersteres die Zerstörung der kulturellen Grundlagen einer bestimmten Gruppe meinte, Letzteres deren physische Vernichtung. Noch war die Zeit für derartige Initiativen nicht reif, und es dauerte bis zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust, ehe die UNO 1948 Genozid als Straftatbestand aufnahm. Bedenkt man jedoch, dass der Völkermord an den Armeniern am Anfang der Schaffung des Begriffs Genozid stand, so wird die Absurdität der Weigerung, die Ermordung der Armenier als Völkermord anzuerkennen, deutlich. Es ist zudem diese Weigerung, die den Völkermord an den Armeniern auch heute noch zum Politikum macht.

In dem Bestreben, diese Anerkennung zu erreichen, versuchen Vertreter der Opfer, möglichst große Parallelen zum Holocaust aufzuzeigen. Da Letzterer zur universell verständlichen Chiffre für das Böse schlechthin geworden ist, gilt der Grundsatz, je ähnlicher der eigene Fall diesem ist, desto schlimmer war er, desto mehr moralisches Kapital gewinnen die Opfer bzw. deren Hinterbliebenen. Im Falle der Armenier fand dies alsbald auch in der These seinen Niederschlag, deutsche Offiziere und Diplomaten seien maßgeblich am Genozid beteiligt gewesen, ja ihnen käme sogar eine hauptsächliche Verantwortung zu. Auch Lemkin vertrat dies, denn wie der Zürcher Historiker Dominik J. Schaller schreibt, sah er auf Grund seiner eigenen Erfahrung mit den Nazis die Deutschen als „das“ Tätervolk schlechthin an.

Die historische Wissenschaft hat diesen Vorwurf weitgehend entkräftet. Die Jungtürken bedurften nicht der deutschen Anstiftung. Ihr Ziel der Schaffung eines ethnisch und religiös homogenen Nationalstaats (wobei die Religion zunächst als Marker für ethnische Zugehörigkeit diente), ihre Suche nach Sündenböcken für militärische Niederlagen im Krieg und ihre Idee, einen Teil der kriegsnotwendigen Umsiedlungen von Kurden durch die massenhafte Beraubung der Armenier zu finanzieren – ein erstaunlich zukunftsweisender Gedanke, betrachtet man sie im Lichte der neuesten Forschungen von Christian Gerlach und Götz Aly zur NS-Raubpolitik –, waren Motiv genug.

Was man den Vertretern des Deutschen Reichs, die sich größtenteils voller Abscheu über die osmanische Politik äußerten, vorwerfen muss, ist, von Einzelaktionen abgesehen, nicht genug unternommen zu haben, um das Verbrechen zu stoppen. Das Osmanische Reich war von Deutschland abhängig und hätte sich wohl kaum eindeutigen Forderungen ganz verschließen können. In Berlin wollte man aber einen wichtigen Verbündeten nicht vergraulen.

Und in dem Umstand, dass viele von den Verbrechen wussten, aber nichts unternahmen und die Verantwortlichen von offizieller Seite nicht angemessen zur Rechenschaft gezogen wurden, liegt ein zentrales Erbe dieses Genozids. Völkermord endet nicht mit dem tatsächlichen Töten, und wenn man Ersteres schon nicht verhindern kann, muss man wenigstens versuchen, die Täter zu bestrafen. Das mag helfen, andere Massenmörder abzuschrecken, zumindest ermuntert es sie nicht zu ihren Untaten.

Hier liegt eine Bedeutung des Völkermords an den Armeniern, die weit über das tatsächlich Geschehene hinausgeht. Während sich Deutschland für die Verbrechen der Nationalsozialisten entschuldigt hat, in Ruanda, in Kambodscha und auch für das ehemalige Jugoslawien internationale Strafgerichtshöfe eingerichtet wurden, und mit der offiziellen Entschuldigung der deutschen Bundesregierung für den Völkermord an den Herero im vergangenen Jahr auch der erste deutsche – im kolonialen Kontext verübte – Genozid sein offizielles Anerkennen gefunden hat, ist für Armenien nichts dergleichen in Sicht. Während Juristen, Politiker und Wissenschaftler weltweit versuchen, Genozid zu erforschen und Möglichkeiten der Prävention zu erkunden, gibt die türkische Regierung das gegenteilige Signal.

Wenn jedoch aus der Geschichte der Genozide etwas zu lernen ist, dann, dass der Versuch der Leugnung ein Thema nicht ad acta legt, sondern dazu beiträgt, dass es immer wieder und immer virulenter zurück an die Öffentlichkeit drängt. Dass Politiker innerhalb Europas, die nicht unbedingt alle als strikte Vertreter einer aktiven internationalen Menschenrechtspolitik bekannt sind, nun den Fall Armenien dazu instrumentalisieren können, ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen und den EU-Beitritt der Türkei zu hintertreiben, ist dafür Beleg genug.

Der Genozid an den Armeniern muss anerkannt werden, nicht nur weil er ein wichtiges Element in einer Globalgeschichte des Genozids darstellt, sondern weil die Geschichte des Genozids noch nicht abgeschlossen ist. Vor elf Jahren hat Ruanda gezeigt, was passiert, wenn die internationale Gemeinschaft beiseite sieht und sich über Definitionen streitet; und dieser Tage lehrt Darfur, dass Genozid immer noch möglich ist. Das Letzte was die Welt braucht, ist die Lehre aus dem Genozid an den Armeniern, dass auch die Nachwelt sich weigert, die Geschehnisse und die Verantwortlichen beim Namen zu nennen.

Der Autor ist Präsident des European Networks of Genocide Scholars (ENOGS), Mitherausgeber des „Journal of Genocide Research“ und Historiker an der Universität Duisburg-Essen