Redaktionsbesuche in Istanbul: Nur die Gedanken sind frei
In der Türkei sind laut einem Bericht weniger Medienschaffende inhaftiert als vor einem Jahr. Doch im Alltag sind sie harten Repressionen ausgesetzt.
S chweißperlen stehen auf seiner Stirn. Sie rinnen über die Schläfen, durch den schwarz-grauen Bart und tropfen, eins, zwei, drei, auf die Kamera. Kazım Kızıl ist gestresst. „Ich habe keinen Parkplatz gefunden“, entschuldigt sich der Journalist bei seinem Interviewpartner, einem Studenten, der gleich über Missstände in türkischen Wohnheimen sprechen soll. Seit bald einer Stunde wartet er schon in einem Café im Istanbuler Stadtteil Osmanbey.
Kızıl klappt das Stativ auf, steckt die Kamera drauf, rollt das Mikrofon-Kabel aus und knipst es an den Hemdkragen des Studenten. Noch eine schnelle Zigarette, ein kurzes Vorgespräch, und los geht’s. Eine Stunde später ist das Interview, mit dem der Freiberufler einen Beitrag für die Deutsche Welle produzieren will, im Kasten. Der Student verabschiedet sich. In Kızıls Gesicht kehrt langsam Ruhe ein.
Und, zufrieden? Mit einer ruckartigen Bewegung wirft er den Kopf in den Nacken und zieht dabei die Augenbrauen hoch, auf Türkisch heißt diese Geste: „Nein“. „Der kannte sich leider nicht aus. Das Interview muss ich noch mal führen. Mit jemand anderem“, sagt er lächelnd. Der 40-Jährige wirkt gut gelaunt – obwohl er gerade einen halben Tag umsonst gearbeitet hat.
Kızıl lässt sich auf die gepolsterte Bank vor dem Café fallen und bestellt einen Filterkaffee. Wie steht es zurzeit um die Pressefreiheit in der Türkei? Der Fernsehmann zuckt mit den Schultern und lacht. Sein Blick, halb amüsiert, halb überfordert, sagt: „Wo soll ich nur anfangen?“ Dann wird er ernst: „Kötüleşti“ – „Es hat sich verschlechtert“.
Das ist erstaunlich. Denn die Zahlen deuten auf den ersten Blick in eine andere Richtung: Nur noch 13 Journalist:innen sitzen in der Türkei aktuell im Gefängnis, verglichen mit 40 vor einem Jahr. Das geht aus dem „Prison Census 2024“ der weltweit tätigen Nichtregierungsorganisation Committee to Protect Journalists (CPJ) hervor, der vergangene Woche erschienen ist.
„Das ist nur eine Momentaufnahme“, betont Özgür Öğret, Türkei-Referent beim CPJ auf Nachfrage der taz. „Die Zahl schnellt in der Türkei nach oben und stürzt herunter so schnell wie eine Achterbahn.“ Weniger Inhaftierungen ließen keinesfalls auf mehr Pressefreiheit schließen. Wie es darum steht, will Öğret lieber daran festgemacht wissen, dass von jetzt auf gleich Dutzende Journalist:innen verhaftet werden können. Die Rechtslage habe sich in den letzten zwei Jahren weiter verschlechtert.
Die extremen Schwankungen lassen sich auch damit erklären, dass sich die Regierung massiv in die Justiz einmischt. Diese tanzt, wenn auch noch nicht vollständig, so doch in weiten Teilen nach der Pfeife von Recep Tayyip Erdoğan. Andere NGOs geben die Zahl der Inhaftierten zudem mit weit über 30 an. Grund dafür seien laut Öğret verschiedene Methoden und Zählweisen.
Kızıl zieht an seiner E-Zigarette und erzählt, wie Polizisten ihm kürzlich das Filmen vor dem Studentenwohnheim „Işıklı Kyk Yurdu“ in der südlich von Izmir gelegenen Stadt Aydın verboten hat. Und wie die Polizei ihm beim Filmen eines Protests im Akbelen-Wald nahe der Stadt Muğla aus nächster Nähe Pfefferspray in die Augen gesprüht hat, was in einem Video auf X zu sehen ist. Oder auch, wie er damals, 2017, für einige Monate einsaß. Er zeigt ein Foto von sich: „Das bin ich im Gefängnis.“
Die Willkür des Systems
Kızıl lacht oft. Grund hat er wenig. Er ist Kurde und Journalist. Aber „kein kurdischer Journalist“, betont er. Er berichte nicht über „die kurdische Frage“. Was er damit meint, ist die Frage, wie sich die kurdische Bevölkerung von der seit Jahrzehnten andauernden Unterdrückung und Gewalt durch den türkischen Staat befreien kann. Warum er sich nicht damit befasse in seiner Arbeit? Aus Angst, weil der Staat diese Medienschaffenden besonders hart verfolgt? „Nee.“ Er interessiere sich einfach für andere Themen und findet: „Aktivismus und Journalismus sollte man klar voneinander getrennt halten“.
Diese Trennung kann in der Türkei überlebenswichtig sein. Schon der kleinste Formfehler, der Journalist:innen des Aktivismus verdächtig macht, kann ins Gefängnis führen, gerade wenn es um die kurdische Frage geht. Aber – und darin besteht die Willkür des Systems – auch wer im engen Sinne journalistisch arbeitet, kann plötzlich Probleme bekommen. Ein besonders absurdes von dutzenden Beispielen ist der WDR-Journalist Tuncay Özdamar, der wohl aufgrund einer Namensverwechslung der türkischen Justiz bei seiner Einreise im September festgenommen wurde.
Obwohl Kızıl zuletzt „nur“ Polizeigewalt und Schikanen erlebt hat, weiß er um die Massenprozesse nach den plötzlichen Verhaftungen, die immer wieder in kurdischen Städten wie Amed (türkisch: Diyarbakır) stattfinden. Es sind Botschaften des türkischen Staats, die ein Dutzend Journalist:innen konkret treffen, aber Hunderte weitere einschüchtern sollen. Viele der dort festgenommenen Journalist:innen harren monatelang in Untersuchungshaft aus, ohne dass Anklage erhoben oder gar ein Urteil gesprochen wurde.
Ein typischer Fall ist der des Fotografen Abdurrahman Gök. Er hat eines der dramatischsten Bilder des letzten Jahres aufgenommen. Beim Neujahrsfest Newroz in der kurdischen Hochburg Amed hatte er genau die Situation fotografiert, in der ein Polizist seine Waffe von hinten auf einen davon rennenden kurdischen Studenten richtet – und abdrückt. Der 23-Jährige war sofort tot. Der Fotograf hat diesen tödlichen Schuss der Polizei dokumentiert. Jetzt steht er vor Gericht. Für seine journalistische Arbeit wird ihm „Terrorismus“ vorgeworfen.
Um Terrorismus drehen sich bereits seit Jahren die meisten Anklagen, diese Tendenz hat sich auch 2023 fortgesetzt, wie ein Bericht der Media Law Study Association (MLSA) zeigt. Die NGO beobachtet Gerichtsprozesse zu Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Insgesamt 314 Medienschaffende wurden im zwölfmonatigen Berichtszeitraum strafrechtlich verfolgt. Verurteilt wurden 23 von ihnen – zu insgesamt 67 Jahren, 8 Monaten und 12 Tagen Gefängnis.
Kazım Kızıl muss jetzt los. „Morgen fahre ich nach Izmir, dann direkt weiter zum nächsten Dreh nach Maraş“. Er wirft sein Equipment ins Auto. „Soll ich dich bis Taksim mitnehmen?“, bietet er an. Am Rückspiegel seines Geländewagens baumelt ein Duftbaum in Rot-Weiß, die türkische Flagge. Nanu, ist er etwa Nationalist? Er fährt am Atatürk-Denkmal vorbei, biegt in eine Seitenstraße und stoppt. „Nein! Die habe ich nur für Polizeikontrollen“, lacht er. „Wenn die Beamten sie sehen, sind sie meistens netter.“ Dann verabschiedet er sich und fädelt sich in den dichten Feierabendverkehr ein.
Zwei Gehminuten vom Taksim-Platz entfernt liegt das deutsche Konsulat. Drinnen strahlt warmes Licht aus monströsen Kronleuchtern auf adrett gekleidete Funktionsträger und ein üppiges Buffet. Draußen, über Istanbul, nieselt es. Es ist eine anhaltende, aggressive Feuchtigkeit. Nach und nach dringt sie in jede Pore ein. Sie droht alle, die ihr länger ausgesetzt sind, zu zermürben, ganz ähnlich wie das Erdogan-Regime die freie Presse.
Der Präsident ist im Mai 2023 knapp wiedergewählt worden. „Wir hatten gehofft, dass er nach einem Wahlsieg abrüstet“, sagt Anke Wagner. Die Fernseh-Journalistin ist zu einer Veranstaltung über Menschenrechte ins Konsulat gekommen. Seit Jahren lebt sie in der Türkei und arbeitet für einen großen deutschen Sender. „Erst das Erdbeben Anfang 2023. Das war das Schlimmste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Dann die Wahlen im Mai und seit Herbst auch noch der Nahostkonflikt.“ Als Türkei-Korrespondentin habe man derzeit kaum eine Atempause. Am 31. März stehen die Kommunalwahlen an.
Aber heute hat Wagner frei und will sich einige Vorträge anhören. „Eine lebendige und freie Presse ist der Eckpfeiler jeder Demokratie“, erinnert der Generalkonsul gerade auf der Bühne. „Die Türkei ist ein Polizeistaat geworden“, raunt die Journalistin im Vorraum. Trotzdem sei hier ihr Zuhause – und das solle es auch bleiben. Zu ihrem Schutz soll ihr echter Name hier deshalb nicht genannt werden.
Eine deutliche Veränderung, die Wagner aufgefallen ist: „Bisher haben Journalisten hier vor allem dann Ärger bekommen, wenn sie kritisch über die türkische Regierung berichtet haben. Seit Neustem versuchen sie sogar, die Berichterstattung über das Ausland zu kontrollieren.“
Das beobachtet auch ein anderer Kollege, der sich an den Stehtisch dazu gesellt. Die Deutsche Welle Türkisch habe kürzlich einen vollkommen sachlichen Beitrag zum Israel-Gaza-Konflikt auf Social Media gepostet. „Daraufhin hat sie einen riesigen Shitstorm geerntet“, sagt er. Der sei aber nicht von Zuschauer:innen gekommen sondn „von Trollen und anderen, regierungsnahen Medien wie TRT World.“
Auch eine Reporterin des Senders HaberTürk, die die Taten der Hamas am 7. Oktober als „terroristischen Akt“ bezeichnet hatte, wurde derart fertig gemacht, dass sie sich entschuldigen musste. Regierungsfreundliche Medien, findet der Kollege am Stehtisch, verwendeten beinahe mehr Energie darauf, andere Medien als „westlich“ und „pro-israelisch“ zu diffamieren, anstatt einfach selbst zu berichten.
„Schlimmer geworden ist es vor allem durch das Desinformationsgesetz“, sind sich hier alle einig. Das wurde Ende 2022 eingeführt und sieht für die „Verbreitung von Falschinformationen“ Haftstrafen von bis zu drei Jahren vor. Leute wie Erkoç nennen es bloß das „Zensur-Gesetz“. „Damit hat die Regierung ein zusätzliches Instrument, um kritische Medien auch dann zu unterdrücken, wenn die bisher üblichen Paragrafen der Anti-Terror-Gesetze nicht anwendbar sind“, erklärt der Referent.
„Dadurch ist es noch einfacher geworden, Ermittlungen und Strafverfahren gegen uns einzuleiten“, sagt auch Dilan Esen. Die 28-Jährige schreibt seit fünf Jahren für die linke Tageszeitung BirGün. Sie hat in die neuen Redaktionsräume eingeladen, die an der großen Istanbuler Einkaufsstraße İstiklal liegen. Esen bietet Tee an. Dann stellt sie ihre Kolleg:innen vor. Dabei sagt sie jeweils deren Namen, das Ressort und wofür die Person gerade angeklagt ist. Vier von ihnen droht ein Prozess wegen des „Zensur-Gesetzes“.
„Dadurch wächst die Gefahr der Selbstzensur“, hatte eine BirGün-Kollegin schon bei der Einführung gewarnt. Natürlich gibt kein:e Journalist:in gerne zu, Informationen zurückzuhalten oder zu verschleiern. Doch wer eine türkische Zeitung aufschlägt, kann das täglich sehen, auch in den letzten regierungskritischen Blättern: Die Rede ist dann zum Beispiel von „Polizeieinsätzen“ (polis müdahalesi), selbst wenn Videos im Netz oder Zeug:innen eindeutig bestätigen, dass es sich bei dem jeweiligen Vorfall um „Angriffe der Polizei“ (polis saldırıları) oder „Polizeigewalt“ (polis şiddeti) gehandelt hat.
Mindestens gegen 33 Journalistinnen und Journalisten wurde auf Grundlage des Desinformationsgesetzes bereits strafrechtlich ermittelt, sechs wurden festgenommen und vier verhaftet, wie aus dem MLSA-Bericht hervorgeht. Als erster Journalist verhaftet wurde Sinan Aygül, nachdem er über Vorwürfe der sexuellen Gewalt gegen ein Kind durch einen Militäroffizier getwittert hatte. Ihm drohen zehn Monate Gefängnis. Zwar wurde er vorerst entlassen, doch er steht seit Monaten vor Gericht und wartet bis heute auf ein Urteil.
Ungewissheit als Repression
Ausgerechnet Menschen, deren Beruf aus dem schnellen Beschaffen von Informationen, Aktualitätsdruck und permanenter Eile besteht, so lang im Ungewissen zu lassen, macht in der Türkei einen besonders perfiden Teil der Repression gegen Journalist:innen aus.
„Übrigens, nicht nur Medienleute kritisieren das Zensur-Gesetz“, erzählt MLSA-Referent Erkoç. Die größte Oppositionspartei CHP hat bereits dessen Verfassungsmäßigkeit angefochten. Doch das Verfassungsgericht, das als eine der letzten halbwegs unabhängigen Bastionen gilt und dessen eigene Existenz die Regierung infrage stellt, wies die Klage im November mit einer knappen Mehrheit ab.
Esen entschuldigt sich: „Gleich beginnt die Mittagskonferenz.“ Sie eilt durch das Großraumbüro, vorbei an 20 Schreibtischen, der Layoutabteilung, dem Videostudio, und betritt einen kleinen Raum hinter Milchglas. Auf dem großen Tisch in der Mitte: ein Dutzend Smartphones, Teegläser, ein Seitenplan. Nach und nach treffen die Kolleg:innen aus den anderen Ressorts ein, sieben Männer, zwei Frauen. Der Chef setzt sich neben Esen, kneift sie in die Wange und fragt, ob sie der deutschen Kollegin auch alles richtig erkläre. Sie lacht. „Tabii ki!“ – „Sicher doch!“
Dann geht die Sitzung los. Die Themen: „Brand im Studierendenwohnheim“, „Krieg in Gaza“, „OECD-Studie zu Bildung“. Nach knapp einer Stunde steht die Planung, alle schwirren auseinander. Esen flitzt zurück an ihren Platz und beginnt ihren Artikel über den Streik der Busfahrer:innen in Deutschland.
Dilan Esen, Journalistin
Nach Redaktionsschluss hat sie mehr Zeit und erzählt weiter: „Neben den Klagen werden unserer Zeitung auch dauernd Bußgelder und Zugriffssperren auferlegt“. Das mache ihre Arbeit, gerade in Zeiten von Inflation und Wirtschaftskrise, noch schwieriger. Sie persönlich arbeite im Schnitt 45 Stunden pro Woche und habe zuletzt 14.070 türkische Lira verdient. Das entspricht zurzeit etwa 426 Euro. Eine durchschnittliche Miete in Istanbul überstieg laut der Immobilienplattform Endeksa zuletzt 17.000 Lira, also rund 515 Euro.
Auch Esen selbst ist für einen Bericht angeklagt, den sie vor ein paar Jahren veröffentlicht hat. „Der war völlig banal und ordentlich recherchiert.“ Sie habe sich nichts vorzuwerfen. Angst habe sie keine, sagt Esen. „Staatliche Verfolgung ist ein Berufsrisiko, das lernen wir hier schon in der Ausbildung.“ Mehr Sorge bereite ihr die Vorstellung, eines Tages wirklich etwas Falsches zu schreiben.
Die deutsche Journalistin Wagner regt internationale Sanktionen wie gegenüber dem Iran an. Auch eine Herabstufung durch internationale Rating-Agenturen sei in der Türkei durchaus gefürchtet. „In Europa meint man, Erdoğan bei all den Krisen auf dieser Welt dringend zu brauchen, doch es gäbe durchaus Druckmittel. Die Achillesferse ist immer die Wirtschaft.“
Mit Blick auf Deutschland kritisiert Batıkan Erkoç von der MLSA die „Visa-Krise“. Für verfolgte Menschen aus der Türkei sei es fast unmöglich, nach Deutschland einzureisen. Wie oft Visa-Anträge aus der Türkei tatsächlich abgelehnt werden, lässt sich aber nicht beziffern. Die Bundesregierung weigert sich, Ablehnungsquoten zu veröffentlichen.
Noch sind nicht alle verhaftet oder geflüchtet
„Immerhin werden hier noch keine Leute gehängt“, resümiert Wagner trocken und spielt dabei auf die Gewalt im Nachbarland Iran an. Und allen Unkenrufen zum Trotz, dass sich über die Türkei ein Schleier der Dunkelheit legt: Noch sind nicht alle verhaftet, zensiert, geflüchtet oder pleite. Ein Positiv-Beispiel, wie unabhängig berichtet werden kann, bietet der Newsletter „Turkey Recap“. Er finanziert sich durch Spenden und bietet politische Analysen auf Englisch.
Die Vorträge im Konsulat sind vorüber, es regnet immer noch. „Ich rechne nicht damit, dass Deutschland oder andere EU-Länder sich jemals ernsthaft für Menschenrechte einsetzen“, sagt ein Radio-Redakteur der taz beim Finger Food im Anschluss. Er sei nur gekommen, um neue Geldgeber für seinen Sender aufzutun. Seine persönliche Überlebensstrategie: „In unserem Programm geht es um Kunst und Kultur. Natürlich sprechen wir auch über Politik – aber immer nur ironisch. Das verstehen sie nicht“, sagt er grinsend und gesellt sich wieder an einen der Stehtische mit den europäischen Funktionären.
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