debatte: Streik gegen rechts
Streiks sind in Deutschland entpolitisiert. Es ist Zeit, dass die Gewerkschaften Arbeitskämpfe als Mittel des zivilen Ungehorsams ins Spiel bringen
Bei den Aufrufen und der Organisation der aktuellen Demonstrationen haben die Gewerkschaften zusammen eine zentrale Rolle gespielt. Ihre Aufrufe richteten sich an alle Menschen, ungeachtet ihrer Glaubensrichtungen, ihrer persönlichen Orientierungen und politischen Überzeugungen gegen die Bedrohung der Demokratie durch die Rechtsradikalen aufzustehen. Dass diese Aufrufe so erfolgreich sind, demonstriert einen demokratischen Grundkonsens in der Bevölkerung.
In Köln geht der dortige DGB-Vorsitzende Witich Roßmann einen Schritt weiter. Er unterstützt einen Vorschlag des Bündnisses „Köln stellt sich quer“, am 31. März, dem Internationalen Tag gegen Rassismus, unter dem Motto „#15vor12“ zu einem allgemeinen „Streik für Menschenwürde“ aufzurufen. Darin heißt es: „Für eine Viertelstunde wird die Arbeit niedergelegt, in Werkstätten, Büros, Fabriken und Verwaltungen, in Kitas, Schulen und Hochschulen. Für eine Viertelstunde bitten wir alle, egal, was sie gerade tun, innezuhalten und ein deutliches Zeichen zu setzen.“
Bei den gegenwärtigen Massendemonstrationen wurde gelegentlich die Fantasie geäußert, ein Streik aller Beschäftigten mit Migrationshintergrund würde mit Sicherheit die Wirtschaft und das öffentliche Leben komplett lahmlegen und damit der Gesamtbevölkerung demonstrieren, wie absurd die Vertreibungspläne der Rechtsradikalen sind. Diese Vorstellung mag verlockend sein, aber eine derartige Aktion wäre nicht nur unrealistisch, sie wäre auch falsch. Sie würde eine gesellschaftliche Spaltung reproduzieren, die im realen Leben der Bevölkerung schon seit Jahren nicht mehr besteht – und sie würde, anders als der Kölner Vorschlag, eine elementare Grundlage gewerkschaftlicher Politik missachten: die Solidarität unter allen Arbeitenden bei der Wahrnehmung ihrer sozialen Interessen.
Diese Solidarität bei den gegenwärtigen Demonstrationen zu thematisieren und sichtbar zu machen, ist auch ein Verdienst der Gewerkschaften. Für sie stellt sich allerdings eine weitere Frage, und die betrifft ihre schärfste Waffe in sozialen Auseinandersetzungen: den Streik. In anderen Ländern, zum Beispiel in Frankreich und Italien, ist der Streik weniger beschränkt auf die Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen, er ist politischer, viel mehr als in Deutschland ein Akt des politischen Protests, der sozialen Auflehnung. In Deutschland ist das Streikrecht zwar grundgesetzlich garantiert, aber es unterliegt rechtlichen Reglementierungen in Bezug auf die Themen und Formen der Auseinandersetzung zwischen den Tarifparteien.
Martin Kempe, Jahrgang 1943, arbeitete nach der Gründung der taz 11 Jahre lang als Redakteur für Gesellschafts- und Gewerkschaftspolitik. Von 2001 bis 2008 war er Chefredakteur der ver.di-Medien.
Die Gewerkschaften haben diese Entpolitisierung des Streiks in der Vergangenheit weitgehend akzeptiert, weil es für eine andere Politik unter den Beschäftigten keine Basis gab und sie selbst in ihrer Rolle als „Tarifpartner“ allseits akzeptiert wurden. Dennoch hat jede relevante Streikbewegung eine politische Dimension, wie die aktuellen Forderungen nach rechtlichen Einschränkungen des Streikrechts im Zusammenhang mit dem vergangenen GDL-Streik zeigen.
Der politische Streik, gar Generalstreik ist in der politischen Kultur weder der deutschen Gewerkschaften noch des ganzen Landes wirklich präsent. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Nachrüstung 1983 riefen die Gewerkschaften zu einer fünfminütigen Arbeitspause auf, von der die meisten Beschäftigten nichts gemerkt haben dürften. Auch als die CDU-FDP-Regierung 1986 nach dem erfolgreichen Streik der IG Metall und der IG Druck und Papier für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit die rechtlichen Rahmenbedingungen für Streikbewegungen zu Ungunsten der Gewerkschaften verändern wollten, mobilisierten die Gewerkschaften den Protest der Mitglieder. In zahlreichen Unternehmen standen die Maschinen stunden- oder gar schichtweise still. Aber eine sich selbst tragende Protestbewegung der arbeitenden Bevölkerung kam auch damals nicht zustande.
Bis heute heißt es in den gewerkschaftlichen Verlautbarungen, dass man sich den politischen Streik, den Generalstreik gar für den Staatsnotstand, den Rechtsputsch, die Abwehr der Diktatur aufspare. Dabei wird immer wieder auf den erfolgreichen Generalstreik 1920 gegen den Kapp-Putsch zu Beginn der Weimarer Republik verwiesen. Aber dabei handelte es sich, kurz nachdem die Arbeiterbewegung die Republik, das Wahlrecht für Frauen, den Acht-Stunden-Tag und vieles mehr erkämpft hatte, um einen demokratischen Widerstand gegen den verfassungswidrigen, gewaltsamen Frontalangriff auf die junge deutsche Demokratie.
So wie es aussieht, werden die Gewerkschaften heute, mehr als hundert Jahre später, wo es wieder darauf ankommt, weder zu einem Generalstreik noch zu irgendeinem wirkungsvollen Streik in der Lage sein, weil ihre Mitglieder, die Vertrauensleute und Betriebsräte – anders als damals – auf ein derartig aktives Eingreifen in die Politik nicht vorbereitet sind. Aber vielleicht sind die Massendemonstrationen zu Jahresbeginn eine Ermutigung, jetzt die Streikwaffe als eine Form des zivilen Ungehorsams und Protests Schritt für Schritt zu politisieren, so wie es mit dem Kölner Vorschlag beabsichtigt ist.
Die Gewerkschaften als Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung haben angesichts der heute drohenden Rechtsentwicklung allen Grund, sich dem mit allen ihren Machtmitteln entgegenzustellen. Denn für die heutige Situation gibt es ein anderes historisches Vorbild – am Ende der Weimarer Republik: Der „legalen“ Machtergreifung der Faschisten 1933 konnten die Gewerkschaften nichts entgegensetzen. Am 2. Mai 1933 wurden die ihre Häuser von den Nazis besetzt, ihre Strukturen zerschlagen und in die „Deutsche Arbeitsfront“ überführt. Viele ihrer führenden Leute und ihrer Aktiven an der betrieblichen Basis landeten in den KZ.
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