Die erträgliche Feuchtigkeit des Seins

Zahlreiche Wolkenbrüche und ein Sturzregen begleiteten die gestrige Fahrradsternfahrt. Doch 100.000 Unentwegte ließen sich auch von den widrigen Verhältnissen nicht davon abhalten, ihre Botschaft auf zwei Rädern auf die Straßen zu tragen

VON ULRICH SCHULTE

Natürlich hat es mit Macht zu tun oder, anders gesagt, mit der Umkehrung der sonst herrschenden Verhältnisse. Der große Reiz der Sternfahrt besteht darin, als Fahrradfahrer endlich mal die Straße für sich proklamieren zu können, ohne Handzeichen, verbalen Stress und Gefahr für den eigenen Leib.

Der Reiz also besteht in Szenen wie dieser: Da fährt eine junge Frau mitten auf dem Kronprinzessinnenweg genießerisch Slalom zwischen den Mittelstreifen. Ihr kleiner Sohn kurvt hinterher. Und die, die hier sonst bestimmen, kriechen am Rand, von Polizeigewalt abgedrängt.

Es war wieder Sternfahrt in der Stadt. 100.000 Fahrradfahrer trotzten den Regenschauern und fuhren auf 17 Routen zum Großen Stern (siehe Kasten). Dabei verknüpften sie mit dem Sonntagsausflug auch ein politisches Statement. Die Forderungen nach Radstreifen auf Autostraßen und speziellen Rückspiegeln für Lkw, um den toten Winkel zu verkleinern, gehören schon lange zum Glaubensbekenntnis des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs.

Umso angenehmer, wenn sie sich mit dem Gefühl der wahrhaft freien Fahrt verbinden lassen. Auf dem knapp zehn Kilometer langen Teilstück der Avus lässt sich diesem Hochgefühl am besten nachspüren. Es sammelt die Routen aus Südwesten und führt sie in die Innenstadt.

Um 12.20 Uhr warten am S-Bahnhof Wannsee rund 200 RadfahrerInnen. Die Grüne Jugend hat Äpfel in Körbe gepackt und betreibt gesunden Wahlkampf, ein Berliner verkauft Riesencurrys und betreibt einen ungesunden Kampf mit seinem Gasgrill. Es herrscht Feierstimmung, klingelnd rollte der Pulk langsam zur Avus-Autobahnbrücke der Spanischen Allee, dort gibt die Polizei die Bahn noch nicht frei, ein Sprudelhersteller verteilt Wasser und blaue Luftballons.

Ein Wartegespräch. Seit zwölf Jahren, erzählt Martin Wolpert, fahre er mit. Er plädiert für Gelassenheit im täglichen Macht-Straßen-Kampf. „Ich winke jedem Autofahrer zum Dank, der mich reinlässt.“ Schließlich gebe es auch unter Radlern Provokateure, die „nachts und mit höllischem Tempo“ Amok fahren.

Auf der Autobahn Rad zu fahren ist ein Erlebnis. Man erfährt ganz andere Dimensionen als auf dem schmalen Radweg und stellt etwa fest, dass die Streifen zu weit auseinander liegen für ein elegantes Kurven.

Von links ziehen Wolken heran, die nichts Gutes verheißen. Der Stoßseufzer einer Frau, „Boah, was steht da für eine schwarze Front“, ist mit das Letzte, was man hört von seinen Nachbarn. Dann fängt es an, nein, es bricht herein. Ein Sturzguss mit Tropfen, die treffen wie Haselnüsse, die die Spurrillen in Sekunden mit Wasser füllen, die einen blinzeln machen.

Das Auf und Ab der Pedale bekommt etwas Kontemplatives. Nur durch jetzt, wofür sind wir hier, wenn nicht zum Fahren? Die Kapuze schafft eine akustische Blase, das eigene Atmen bestimmt plötzlich, die Zurufe der Mitradler („Womit haben wir das verdient?“, „Oooch neee …“, „Maaamaaa!“) werden eins mit dem Grundrauschen. Alles duckt sich hinter die Lenker, macht sich klein, rechts heben einige ihre Räder über die Leitplanke und suchen Schutz unter Bäumen. Die Tropfen drücken die Ballons, die sich viele an die Rahmen gebunden haben, während der Fahrt auf den Asphalt, wo sie mit aufmunterndem Knall platzen.

Zunächst merkt man, wie die Tropfen kleiner werden, dann wird es heller, schließlich reißt der Himmel auf. Viele halten kurz, sie entsorgen die unerträgliche Feuchtigkeit des Regencapes auf dem Gepäckträger und werden, zurück im Sattel, zu Kindern. In Spurrillen lässt es sich wie auf Wasserskiern hin und her wedeln, die Fontäne, die vom Vorderrad sprüht, spritzt dann Girlanden. Der Himmel reißt auf, spiegelt sich in den Pfützen, es duftet nach Linden, mitten auf der Autobahn. Ein Junge nimmt die Hände vom Lenker, breitet sie aus und ruft etwas.

Hinten erscheint der Funkturm, wir biegen in Richtung ICC ab. Alle nehmen den Schwung der abschüssigen Autobahnausfahrt voll mit, fahren über Rot und dann quer über vier Spuren, Ideallinie in Richtung ICC. Dort an der Ecke lehnt Hans-Christian Ströbele an einem Geländer, er ist nass und gut gelaunt: „Die Polizei ist schuld. Die haben uns auf der Brücke warten lassen. Statt in Autos vorneweg zu fahren, sollten die Beamten mal auf Räder steigen, dann hätten sie unseren Blick auf die Dinge.“ Dann fährt die Grüne Jugend vorbei, Ströbele jagt hinterher, sein Antritt ist beachtlich. Kurz darauf kommt die Siegessäule in Sicht. Die zweite Regenfront schafft es nicht, uns vorher einzuholen.