Der hartnäckige Logiker

„Die Politik ist voller Widersprüche. Zu viel Logik kann da schaden“

AUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN

Sein Lieblingsfoto zeigt Josep Borrell mitten im Wasser, auf einem Floß in den Pyrenäen. Der Himmel ist blau, das Wasser schnellt über die Felsen. Da steht der Präsident des Europäischen Parlaments mit hochgekrempelten Hosenbeinen und halboffenem Hemd. Mit aller Kraft stemmt er ein Holzruder gegen die Strömung. Er lächelt.

Es ist das gleiche Lächeln, mit dem Borrell seine Staatsgäste in Brüssel begrüßt, mit dem er die EU-Verfassung verteidigt und für die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wirbt. Es ist das Lächeln, mit dem er so entschlossen agiert, dass das oft als machtlos bespöttelte Parlament zunehmend Respekt gewinnt.

Verlegen fährt sich der 57-Jährige mit der Hand über das Kinn. „Ich hatte leider keine Zeit mehr, mich heute Morgen zu rasieren“, entschuldigt er sich mehrmals. Die grauen Stoppeln auf seiner immer braun gebrannten Haut sind kaum zu sehen. Seine Haare sind weniger geworden. Sie passen zur Brille: grau meliert.

Borrell spricht leise und bedächtig. Er rührt mechanisch in einer Tasse Kaffee. Es ist kurz vor Mittag und er kann sich nicht mehr erinnern, wie viel Kaffee er schon getrunken hat. Es ist sein Hauptnahrungsmittel geworden. Vor allem seit den beiden vernichtenden Abstimmungen über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden. Borrell wird nicht müde, trotzdem für den Text zu kämpfen, reist von einer Diskussionsrunde zur nächsten: „Alle europäischen Bürger müssen die Gelegenheit haben, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen“, wiederholt der Parlamentspräsident mechanisch. Der Ratifizierungsprozess müsse – trotz der Schwierigkeiten – zu Ende geführt werden.

Er möchte sich nicht aufdrängen und trotzdem hat der Spanier bereits seit seiner Wahl vor knapp einem Jahr für einige kleine Skandale in Brüssel gesorgt und damit auch sein Parlament zurück ins Blickfeld der Europäischen Institutionen gerückt. Am Mittwoch stimmen die Abgeordneten über ihren Vorschlag zur Haushaltsplanung der EU für die Jahre 2007 bis 2013 ab. Für Borrell ist klar, dass sie sich dabei nichts von den Staats- und Regierungschefs vorschreiben lassen dürfen. „Man kann nicht mehr Europa für weniger Geld machen.“ Einige Staaten, darunter auch Deutschland, hatten gefordert, die EU-Beiträge zu kürzen, erst in der Verfassungskrise hat Berlin ein wenig Kompromissbereitschaft signalisiert.

Borrell will Eigenständigkeit für seine Institution, und das seit Beginn seines Mandates. Das Parlament musste im vergangenen Herbst der EU-Kommission zustimmen, sonst hätte sie ihre Arbeit nicht aufnehmen können. Präsident Barroso hatte den Italiener Rocco Buttiglione als Justizkommissar vorgeschlagen. Borrell war dagegen. Ihm – und auch anderen Parlamentsmitgliedern – gefielen die Äußerungen des konservativen Papstgetreuen über Frauen und Homosexuelle nicht. In einem Interview erklärte Borrell: „Ich möchte in Spanien keinen Justizminister haben, der denkt, dass Homosexualität eine Sünde ist, und dass die Frau zu Hause bleiben und Kinder unter dem Schutz ihres Mannes hüten muss.“

Barroso zog seinen Kandidaten zurück. Einige konservative EU-Politiker warfen Josep Borrell daraufhin vor, er habe unüberlegt gehandelt. Er hätte die Entscheidung der zuständigen Parlamentskommission abwarten müssen und nicht mit seiner persönlichen Meinung das mögliche Abstimmungsergebnis beeinflussen dürfen.

Aber das Parlament hatte erstmals aufgemuckt und sich trotz der Gefahr einer politischen Krise gegen die EU-Kommission gestellt. Ein Novum im Brüsseler Institutionen-Machtkampf. Seitdem ist José Manuel Barroso sehr vorsichtig geworden. Als er dem Parlament im Dezember sein Arbeitsprogramm vorstellte, begann er seine Rede mit dem Satz: „Ich bin gekommen, um Ihnen zuzuhören.“ Europapolitik sei ohne eine Zusammenarbeit zwischen Parlament und Kommission nicht möglich, sagte Barroso. Ein erster Sieg für den smarten Spanier Borrell.

Dann war da die Sache mit der Türkei. Der Parlamentspräsident reiste im Herbst vergangenen Jahres an den Bosporus und hat sich im Anschluss und noch vor der Abstimmung im Parlament für die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen stark gemacht hat. „Europa ist kein christlicher Club und kann das auch nicht sein. Und die Türkei darf nicht zurückgewiesen werden, weil ihre Bevölkerung mehrheitlich dem Islam angehört.“

Klare Worte, die in den letzten Jahren eher ungewöhnlich waren für einen Parlamentspräsidenten. Borrells Vorgänger etwa, der Ire Pat Cox, war da wesentlich zurückhaltender. „Er kam aus der nördlichen Tradition. In England ist der speaker im Abgeordnetenhaus zu 100 Prozent neutral. Cox verstand sich als Kommunikator, als Garant für das Funktionieren der Institutionen und nicht mehr“, sagt Guillaume Durand vom Brüsseler Think-Tank European Policy Center. Der Ire äußerte sich so gut wie nie persönlich zu politischen Fragen. Er gab lediglich die Meinung des Parlaments wieder, wenn dieses bereits abgestimmt hatte.

Seine unerschrockene Wortwahl verdankt Borrell unter anderem seiner Ausbildung. Er ist Mathematiker. Er sagt: „Die Logik bestimmt mein Denken. Das hilft mir, Dinge verständlich zu erklären, aber es ist nicht unbedingt die beste Voraussetzung für die Politik.“

Beides hat Borrell schon in seiner Zeit als Politiker in Spanien erfahren. Als sozialistischer Finanzminister trat er vor über zehn Jahren in einer Fernsehshow auf. Er hatte ein in kleine Stücke zersägtes Pesetenstück mitgebracht. So erklärte er dem Publikum den Staatshaushalt. „Daran erinnern sich die Menschen heute noch“, sagt Borrell.

Andererseits: Seine Logik sagte ihm Ende der 90er-Jahre, er wäre eigentlich viel besser als Vorsitzender der sozialistischen Partei Spaniens geeignet als der offizielle Kandidat. Also bewarb er sich und wurde prompt gewählt – sehr zum Ärger der Parteioffiziellen, die ihn seitdem argwöhnisch beobachteten. „Die Politik ist voller Widersprüche. Zu viel Logik kann da manchmal schaden.“

Dennoch drängt der Spanier sein Parlament, neuerdings zu politischen Fragen Stellung zu beziehen, bei denen das Parlament eigentlich gar kein Mitspracherecht hat. So hat er die Abstimmungen zur Türkei und zur EU-Verfassung vorgeschlagen. „An unserer Stimme kommt keiner vorbei.“

Seine Hartnäckigkeit blieb nicht unkritisiert: „Herr Borrell ist ein sehr voreingenommener Präsident. Wenn man Euro-Skeptiker ist wie ich, dann wird man nicht gleich behandelt“, beklagt sich Nigel Farrage, britischer Abgeordneter und Verfassungsgegner. Borrell habe zu einseitig Stellung bezogen, zu viel Geld für die Pro-Verfassungs-Kampagne genehmigt und den Gegnern während der Abstimmung im Plenarsaal Schilder abnehmen lassen, auf denen die Abgeordneten gegen die Verfassung demonstrierten. „Während der Abstimmung ist das verboten. Es verstößt gegen das Reglement“, verteidigt sich Borrell.

„Man kann nicht mehr Europa für weniger Geld machen“

Schließlich stimmte sein Parlament mit überwältigender Mehrheit für die EU-Verfassung, und einmal mehr hatte es die Institution auf die ersten Seiten der Zeitungen geschafft. Die Öffentlichkeit schaut immer öfter hin, wenn die Abgeordneten ihre Hände zur Abstimmung heben. Und die Institution kann sich langsam von ihrem Ruf der Debattenkammer befreien.

Und Borrell bleibt standhaft. Er wollte schon immer alles und noch mehr wissen. Und er gab nicht so leicht geschlagen.

Es klingt ein bisschen wie im Märchen: Der Präsident stammt aus einem Dorf in den katalanischen Pyrenäen. Seine Eltern hatten eine Bäckerei. Josep schmiss mit zehn Jahren die Schule, um das elterliche Brot auf einem Esel in die Umgebung auszuliefern. Aber er büffelte gleichzeitig zu Hause weiter, machte Abitur und ging zum Studieren nach Madrid, Paris und in die USA. Er ist Luftfahrtingenieur, Doktor der Wirtschaftswissenschaften und hat einen Master in Erdölwissenschaften abgelegt.

Den katalanischen Esel hat er mittlerweile gegen Limousine und Flugzeug eingetauscht. Ein Wanderer ist er geblieben. „Ich bin ein Luxusnomade“, der – wenn es irgendwie geht – drei Mal in der Woche Sport treibt.

Er schläft jeden Monat fünf Nächte in Straßburg, wenn das Parlament im Elsass tagt. Einige Tage ist er meistens in Luxemburg, knappe zwei Wochen in Brüssel, fünf oder sechs Tage auf Reisen in Europa und drei oder vier reserviert er sich für Madrid. „Ich bin nirgendwo zu Hause. Zum Glück dauert dieses Leben nur zweieinhalb Jahre.“ Dann wird er die Präsidentschaft abgeben und vermutlich ein gestärktes Parlament hinterlassen.

Jetzt beginnt für ihn die harte Verhandlungsphase mit den Mitgliedsstaaten und der Kommission über die Haushaltsplanung der EU von 2007 bis 2013. Borrell will auf jeden Fall mehr Geld für Europa, als die Mitgliedsstaaten bisher bereit sind auszugeben. Um ganz sicher zu gehen, dass die Meinung des Parlaments nicht untergeht, hatte er den Vorsitz der zuständigen Parlamentskommission übernommen. Auch das hat ihm Kritik aus den eigenen Reihen eingebracht – der Posten würde der erwünschten Neutralität des Präsidenten widersprechen, hieß es. Aber Josep Borrell nimmt’s gelassen und gibt schon einmal den Ton für die Verhandlungen an: „Der Vorschlag einiger Mitgliedsstaaten ist völlig unrealistisch und wir werden dem garantiert nicht zustimmen. Ohne die Zustimmung des Parlaments wird es keine Haushaltsplanung geben. Wir haben das letzte Wort.“