„Auswendiglernen ist Wahnsinn! Lernen muss vom Kind kommen“

DIGITALES LERNEN Wer sinnvoll mit Computern lernen will, muss dafür sorgen, dass die Technologie bedienerfreundlich, aufwandsarm und preiswert ist

■ Wikipedia, YouTube, Twitter und Blogs verändern das Wissen der Menschen – und ihr Lernen. Die taz-Bildung beleuchtet in loser Folge das Lernen 2.0. Zuletzt zeigte Oliver Pohlisch Lernen 2.0 als Hilfsmittel für Risikoschüler. (tiny.cc/starthilfe) Timo Hoffmann schrieb über elektronische Tafeln (tiny.cc/whiteboard). Jagoda Marinic erläuterte, wie das Web 2.0 zum Pausenhof informellen Lernens wird. Seminarräume, Klassenzimmer und Hörsäle haben bald ausgedient (tiny.cc/marinic). Der erste Beitrag der Reihe, über die gesellschaftlichen Auswirkungen des Web 2.0 (tiny.cc/fxo3x), stammte von Ulrich Klotz. Danach schrieb Meike Laaff, wie Blogs zur Zukunft des Lernens werden (tiny.cc/N5Iqp). Lisa Rosa entwickelte eine Theorie des neuen Lernens. (tiny.cc/lisarosa) Es folgen weitere Stücke über das neue Lernen. lernen2.0@taz.de

taz: Herr Töpel, warum setzen Sie sich für das Lernen mit Notebooks ein?

Michael Töpel: Ich habe früher Forschung gemacht und sehr viel darüber nachgedacht, wie man Technik gesellschaftlich verstehen kann. Es gibt kaum eine so gesellschaftsverändernde Kraft wie Werkzeuge.

Wie sieht sinnvolles Lernen mit Notebooks aus?

Möglichst alles Wissen muss jedem Schüler zur Verfügung stehen. Es muss dafür gesorgt werden, dass jeder Schüler sich das Wissen in pädagogisch sinnvollen Prozessen aneignen kann. Das geht mit technischer Unterstützung – wenn sie immer von unten nach oben angeordnet entwickelt wird. Und wenn sie dem Prinzip folgt, dass die neue Technologie bedienerfreundlich, aufwandsarm und preiswert ist.

Also wie Ihr Arbeitsmittel LASSI, ein USB-Stick …

Ja. Da ist alles drauf, was die Schüler gelernt haben, ihr ganzes Wissen, und wie sie mit Wissen umgehen. Wenn sie ernsthaft damit gearbeitet haben, ist das wertvoll. Das gibt dem Lernenden Autonomie, niemand zwingt ihn dazu, dasselbe zu machen wie die anderen, nur weil es dasselbe Ding ist. Die Devise ist: Bau deine eigene Wissenswelt auf. Wir müssen versuchen, das Lernen und Lehren vom Kind her zu gestalten. Ein schwieriger Prozess.

Und das klappt durch die Notebooks?

Das ist eine Hoffnung. Notebooks sind das, was an notwendiger Innovation stattfinden muss in der Schule. Wir brauchen diesen ganz generellen Umschwung, damit Lernen wieder für die Lernenden, für die Gesellschaft, aber auch für die Entwicklung unserer Gesellschaft in Richtung Wissensgesellschaft fruchtbarer wird. Leider ist unser ganzes System auf den Gedanken ausgerichtet, dass Wissen aus Wissensvermittlung entsteht.

Was ist falsch daran?

Bei Pisa stellt man fest: Die Schüler verfügen hauptsächlich über träges Wissen. Sie haben zwar Wissen gespeichert, können es aber nicht anwenden.

Wie konnte das passieren?

Betrachten Sie mal plausibel, wie das System funktioniert: In der Grundschule sind alle noch ganz fröhlich, die Kinder gehen gerne in die Schule. Irgendwann verliert sich das, das ist schon mal das erste Drama. Zweitens passiert Folgendes: In den ersten zwei, drei Jahren geht es im Wesentlichen darum, Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erwerben. Und damit verbindet sich ein individuell wichtiger Stolz: Ich kann etwas.

Aber das ist doch gut!

Ja, doch ab der dritten Klasse ändert sich das. Da beginnt der sogenannte Sachunterricht. Und kommt man schließlich aus der Grundschule, aus dieser geborgenen Welt, ins Gymnasium, ist Lernen völlig fremdbestimmt. Man lernt für eine Klassenarbeit, und die wichtigste Frage ist: Was kommt dran? Das hat nichts mehr mit Verstehen zu tun oder die Welt zu erklären, mit allem, was in den schönen Präambeln von allen Lehrplänen der Welt steht. Bei der Klassenarbeit schreibt man alles auswendig Gelernte einfach runter. Bekommt man eine gute Zensur, ist klar: Aha, so funktioniert also Lernen. Und wenn der Schüler keine Veränderung von außen spürt, keinen Druck, dann wird er sich auch nicht ändern.

Und wenn der Schüler eine 5 in Mathe bekommt?

Dann resigniert er und erlebt eine Art Selbstentwertung, weil er mit dem Lernen nicht klarkommt. Er versucht, den Stoff mit Gewalt in seinen Kopf zu stopfen, und liest seine Unterlagen tausendmal durch – anstatt zu versuchen, sie zu verstehen. Er lernt quantitativ statt qualitativ.

Der Einsatz von Notebooks im Unterricht sollte also möglichst früh beginnen.

Ja, wenn die Wissensarbeit beginnt, also ungefähr ab der dritten Klasse. Vorher muss der Schüler kapieren, dass er für sein Wissen selbst verantwortlich ist und verständnisvoll damit umgehen muss. Auswendiglernen ist Wahnsinn!

Viele Eltern haben ja Bedenken. Zum Beispiel, dass die Schüler lieber im Internet surfen, anstatt zu lernen …

Wenn der Wille da ist, zu wissen und Wissen zu erlernen, wird kein Kind auf Pornoseiten surfen. Ablenkung gibt es natürlich immer, früher gab es eben Zettel, die unter dem Tisch durchgereicht wurden. Wenn man den Unterricht vom Kind her denkt, passiert das alles nicht.

Funktioniert das nicht auch ohne Notebook?

Doch, natürlich. Doch kein Mensch, der klug ist und Kinder versteht, wird sie in diese Welt hineinschicken, wo sie selbstverständlich diese Technologie brauchen und haben wollen. Keiner wird freiwillig auf ein Notebook verzichten. Das wird nie mehr anders sein.INTERVIEW: SEY

MICHAEL TÖPEL hat den Arbeitskreis Lernen mit Notebooks gegründet