theorie und technik
: Nationale Gedenkmythen zum Zweiten Weltkrieg verblassen – an ihre Stelle tritt ein neuer, allgemeiner Opfermythos

Alle Opfer des Zweiten Weltkriegs gleichzusetzen ist längst über den Revisionismus hinaus zu einem allgemeinen Diskurs geworden

In seinem jüngsten, viel bachteten Essay („As many wars as nations. The myths and thruths of WW II“ – nachzulesen bei Perlentaucher.de) entkräftet Adam Krzeminski die Vorstellung, der Zweite Weltkrieg sei der einigende Gründungsmythos der Europäischen Union. Denn es gäbe, so sein Befund, keinen gemeinsamen Blick auf die Zeit von 39 bis 45, sondern nur konkurrierende nationale Erzählungen. Europa sei geprägt von einem wahrhaften „clash“ nationaler Mythen, so sein prägnantes Wort, welcher die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg anhaltend in unterschiedliche nationale Geschichten aufteile. Die Hoffnung für Europa, so versteht man den Text, läge in der Befreiung von diesen trennenden Bildern der Vergangenheit, um eine gemeinsame Perspektive zu gewinnen. Unausgesprochen schwingt da mit, dass solch eine einzige, einigende Version jenseits der – nationalen – Mythen angesiedelt, also ein Ankommen bei der historischen Wahrheit wäre.

Mit dem französischen Lacanianer Jean-Claude Milner ließe sich dagegen ein doppelter Einspruch erheben: Nicht nur wird diese Analyse dem aktuellen Stand der Dinge nur sehr partiell gerecht, auch scheint diese Hoffnung äußerst trügerisch. Milner entwirft ein Bild, in dem sich ein europäischer demos von der Vorstellung des einen Volkes, also eines begrenzten Ganzen, hin zu jener eines unbegrenzten Ganzen entwickelt, das tendenziell alle inkludiert und keine Ausnahmen mehr kennt. Durch seine konstante Erweiterung werde Europa zunehmend zu dem, was der Psychoanalytiker Jacques Lacan „nicht-alles“ genannt hat: eine unabgeschlossene, unbegrenzte, allumfassende Einheit. Bedingung für solch ein Europa sei aber „das Auslöschen aller trennenden historischen Traditionen und Legitimationen“.

Mit Milner muss man gegen Krzeminski also einwenden: Die von ihm erhoffte Befreiung von den trennenden Narrativen findet längst statt – und Ereignisse wie die von ihm angeführte Nichtteilnahme der Litauer und Esten an den Feierlichkeiten zum Siegesgedenken in Moskau sind nur eine Seite der Entwicklung. Deren andere, nachhaltigere Seite lässt sich mit Milner in der genau gegenteiligen Bewegung erkennen: Die nationalen Differenzen der Erinnerung werden zunehmend aufgehoben, ohne dass sich Krzeminskis Hoffnung damit realisieren würde. Denn tatsächlich ist die so vollzogene Einheit (neben neuer Ausschlüsse) keineswegs der Schritt über die Mythen des Gedenkens hinaus. Das Verschwinden der differierenden nationalen Erzählungen bedeutet keineswegs die Vorherrschaft der historischen Wahrheit, sondern vielmehr das Aufkommen eines neuen Mythos: Die nationalen Heldenlegenden werden ersetzt durch jene eines abstrakten Leidens und eines verallgemeinerten Opfertums.

Die moralische Gleichsetzung aller Opfer des Zweiten Weltkriegs ist längst über den Revisionismus hinaus zu einem allgemeinen Diskurs geworden, der die allgemeine Anerkennung des Leidens einfordert – sei es jenes der Deutschen unter den Bombardements der Alliierten oder jenes der Vertriebenen. In der BRD ging es noch um eine unbezwingbare Empathie mit den Opfern. Ich erinnere mich an eine Folge der „Lindenstraße“, wo dieser Drang seinen idealen Ausdruck in den pubertären Aufwallungen einer Jugendlichen fand, die ihn in einer Rasur ihres Haupthaares auslebte. Heute hat sich diese unmögliche Empathie, die „inakzeptable Identifikation“ (Diedrich Diederichsen) mit den fremden Opfern hin zur Entdeckung des eigenen Opfertums verschoben.

Aber dies ist keineswegs nur ein deutsches Phänomen. Selbst Österreich verabschiedet sich allmählich von seinem nationalen Mythos, nämlich erstes Opfer Hitlers gewesen zu sein, nur um sich umgehend in die Abstraktheit des allgemeinen Kriegsleidens einzureihen, die von allen Kontexten absieht. Dieser neue Opferstatus ist ambivalent. Einerseits bedeutet er das Einreihen in ein Allgemein-Menschliches, andererseits erlaubt er es gleichzeitig, einen „Distinktionsgewinn zu erzielen“ (Norbert Frei). Dieser besteht nicht zuletzt in einer neuen Subjektivität, die sich nach dem Wort des französischen Philosophen Alain Badiou folgendermaßen charakterisiert lässt: „Mensch, das ist das, was sich als Opfer wiederzuerkennen vermag.“

Wenn sich herausstellen sollte, dass dies das spezifisch Europäische dieser Subjektivität ist, dann wäre dies eine pervertierte Realisierung des europäischen Gründungsgedankens. In jedem Fall aber muss man Adam Krzeminski entgegenhalten, dass der einheitliche Blick auf die Vergangenheit sich offenbar nur durch ein Weniger an Konkretion, durch eine Entpolitisierung des Gedenkens und nicht durch ein Mehr an Wahrheit erreichen lässt. ISOLDE CHARIM