Frau Doktor, meine Katze spinnt!

Immer mehr Haustiere sind auffällig verhaltensgestört. Kein Wunder: Je neurotischer die Besitzer, desto durchgeknallter das Tier. Zum Glück gibt es auch dagegen eine Therapie: die Tierpsychologie. Ihr Markt ist seit Mitte der 90er rasant gewachsen

Früher wäre die durchgeknallte Katze in der Regentonne ersäuft worden, heute kommt die Tierpsychologin

VON MARTIN REICHERT

Das Vieh hockt neben dem Edelstahlherd und stößt Furcht erregende, markerschütternde Laute aus, die spitzen Zähne gebleckt, das Fell steht zu Berge, der Schwanz ist drohend aufgerichtet. Die Hauskatze heißt Muschel und ist ziemlich durchgeknallt, der Gastgeber hat seinen Besuchern das Betreten der Küche untersagt, denn es sind Kinder anwesend. Mathias P. (35) hat Muschel und ihre Mitkatze Felix vor zwei Jahren in einer „Netto“-Einkaufstüte gefunden und bei sich aufgenommen. Seinen Südfrankreich-Urlaub mit Freunden hat er für dieses Jahr schon mal abgesagt, denn Muschel hat bereits seine letzte Abwesenheit nicht verkraftet: Seitdem sie bei einem anderen Katzenfreund zur Pflege war, attackiert sie grundlos ihren Besitzer und Besucher, schlägt ihre Krallen in deren Unterschenkel und zerbeißt jeden Schuh, der in ihre Reichweite gelangt – Mathias P. weiß nicht mehr ein noch aus, denn die Katzen sind sein ein und alles. Er ist Single, im Gegensatz zu den meisten seiner Gäste hat er keine Kinder.

Die Mütter und Väter rätseln derweil amüsiert: Hat Muschel ein frühkindliches Trauma erlitten, die „Netto“-Tüte nicht verwunden? Der ebenfalls anwesende Katzenfreund wird mit scheelen Blicken bedacht, womöglich hat er Muschel schlecht behandelt oder sie intimen, abartigen Geschehnissen ausgesetzt, die sie nicht verkraftet hat?

Muschel ist ein klarer Fall für Gabriele Zieske. Sie ist Tierpsychologin. Eine Katzenflüsterin. „Die Verhaltensstörung dieser Katze hat vermutlich etwas mit der zweiten Katze zu tun, meistens werden die Tiere auch nicht genug beschäftigt. Bei Aggressionen dieser Art handelt es sich oft um Eifersucht, manchmal auch um aufgestautes Jagdverhalten“, attestiert Zieske. Was also tun? „Das Problem kann man lösen, da habe ich meine Geheimtipps, aber die verrate ich natürlich nicht“, sagt sie. Eine Erstberatung kostet bei ihr 65 Euro.

Die Tierpsychologie ist seit Mitte der 90er-Jahre ein wachsender Markt – allein in den letzten vier Jahren haben sich über 600 so genannte Tierpsychologen registrieren lassen – weil selbst nicht artgerecht gehaltene Großstadtsingles verstärkt auf Mensch-Tier-Beziehungen vertrauen: Einer Katze oder einem Hund kann man jederzeit das Fell voll heulen, wenn es einem schlecht geht und niemand zuhören will, weil Herzschmerzbekundungen oft redundant sind. Tiere sind wenigstens treu. Sie gehen umstandslos mit, wenn man aus Jobgründen schon wieder in eine andere Stadt ziehen muss. Und überhaupt sind sie praktisch, weil sie mangels verbaler Fähigkeiten keine komplizierten Forderungen stellen und gleichzeitig eine wunderbare Projektionsfläche abgeben.

Oft handelt es sich bei bei der Mensch-Tier-Beziehung um ein grundsätzliches Missverständnis: Katzen betrachten ihre Halter als Mitkatzen, Halter ihre Katzen als Mitmenschen, dabei sind Tiere den Menschen zwar analog, keineswegs jedoch homolog.

„Meine Louise ist unabhängig, selbstbewusst und intelligent“, erklärt die unabhängige – da partnerlose –, selbstbewusste – da therapiegestählte –, intelligente – da ambitionierte – Arbeitslose Yvonne M. (33) aus Berlin. Seitdem sie noch einen (kastrierten) Kater dazugekauft hat, damit wenigstens Louise nicht alleine ist, hat die Katzendame ihre Mitte verloren, ist aggressiv und unruhig.

Yvonne und Louise versuchen es nun mit bei Mondschein gepflückten Bachblüten, die esoterischen „Rescue-Tropfen“ sollen Halterin und Katze helfen, wieder ausgeglichener zu werden. Tierpsychologin Zieske rät: „Wenn man Katzen zusammen hält, sollten sie aus einem Wurf stammen. Zudem wirkt sich die Unausgeglichenheit des Halters durchaus auf das Tier aus. Ist ein Haushalt hektisch, gibt es Streit in der Partnerschaft, dann werden die Tiere ängstlich und aggressiv.“

Die meisten Tierärzte können dann nicht weiterhelfen, weil weder Humanpsychologie noch Verhaltensbiologie zu den Schwerpunkten ihres Studiums gehören, die wenigsten haben sich bislang in einem möglichen Zusatzstudium als Tierverhaltenstherapeut oder Fachtierarzt für Verhaltenskunde weitergebildet. In diese Lücke grätschen die Tierpsychologen, kein geschützter Beruf und insofern ideal für die Gründung einer Ich-AG. Auch Gabriele Zieske hat sich ihr Handwerk selbst beigebracht, Unmengen von Büchern gewälzt: „Mittlerweile werden ja Ausbildungen angeboten, aber erstens sind die sehr teuer, und zweitens sind die auch eher lebensfremd“, findet Zieske.

Die Tierpsychologie erlebt ihren Aufschwung jenseits der akademischen Forschung. Biologen wie Nikolaas Tinbergen und Konrad Lorenz hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen, das innere Erleben von Tieren zu analysieren, ihr Arbeitsgebiet nannten sie Tierpsychologie, manchmal auch Ethologie oder vergleichende Verhaltensforschung. Heute wird an den Universitäten meist unter dem Begriff Verhaltensbiologie geforscht. In Großbritannien hingegen wurde erstmals eine Professur für Tierpsychiatrie geschaffen. Daniel Mills beschäftigt sich an der Lincoln University mit den Ängsten von Hunden, Katzen und Pferden. Er glaubt, dass Mensch und Tier im Laufe der Evolution so vieles gemeinsam durchgemacht haben, dass sie womöglich auch vergleichbare Psychen aufweisen.

Derweil nimmt die Zahl der Animalisten zu, Menschen, die sich frustriert von ihren Mitmenschen abwenden und sich Wellensittichen, Zierbarschen, Hunden und Katzen zuwenden: Rudolf Mooshammer hatte nur „Daisy“ und musste für menschliche Zuneigung bezahlen, Brigitte Bardot kämpft für Robben und hasst Ausländer und Schwule. Selbst Leni Riefenstahl hat sich in ihren letzten Jahren mehr für Fische als für muskulöse Menschen interessiert – avantgardistisch bis zuletzt.

Die moderne Tierliebe ist ein Zivilisationsphänomen: Je mehr sich die Menschen von der Natur entfernen, desto komplexer und komplizierter wird ihr Verhältnis zu den Tieren. Statt Mäuse in der Scheune zu fangen oder Jagdbegleiter zu sein, müssen die Schnautzis, Knurzis, Stupsis und Emmas helfen, all die unerfüllbaren Ansprüche zu erfüllen, die moderne Menschen an sich und ihre Mitmenschen stellen; Ansprüche auf persönliches Glück, die in den USA sogar verfassungsrechtlich garantiert sind. Haustiere sind nun mal die evolutionären Begleiter des Menschen: Sie müssen da durch, notfalls mit Tabletten.

Bernhard ist ein ausgewachsener, muskulöser Rottweiler, ein Hund, für den man eigentlich einen Waffenschein bräuchte. Aber wenn sein Frauchen Petra E. (39), Ergotherapeutin und Langzeitsingle aus Trier, das Haus verlässt, verwandelt sich Bernhard in ein Häufchen Elend. Er winselt und jault, zerlegt seine Umgebung und sich selbst, indem er sich blutig kratzt und beißt. Er leidet unter Trennungsängsten.

Seit einem halben Jahr schluckt Bernhard Clomicalm von Novartis, ein Antidepressivum, das auch für Menschen verwendet wird. Frauchen hat Bernhard angeschafft, damit sie nicht alleine ist, Frauchen ist berufstätig und muss Bernhard deshalb den ganzen Tag alleine lassen. Die Lösung heißt Clomicalm. „Hunde sind Rudeltiere, alleine würden sie in freier Natur verhungern. Solche Hunde müssen mit viel Geduld langsam an die tägliche Trennung gewöhnt werden. Die Zeit muss sich der Halter nehmen“, sagt Tierpsychologin Zieske.

Die Zeit hat der Halter allerdings meistens nicht. Das Tier muss funktionieren, sonst könnte man sich ja gleich einen Menschen halten. „Es gibt ja in der Tat eine Tendenz zur Übervermenschlichung des Tiers“, konstatiert Reinhold Bergler, emeritierter Professor für Psychologie und Vorsitzender des Forschungskreises „Heimtiere in der Gesellschaft“. Er und seine Kollegen haben Ende der 90er-Jahre herausgefunden, was mittlerweile Gemeinplatz ist: Tiere sind gut für Menschen, helfen bei Depression, Einsamkeit und Herzrhythmusstörungen.

Und umgekehrt? „Es gibt ja in der Tat verhaltensgestörte Menschen, Fehlverhalten gegenüber Tieren findet statt. Wenn Herrchen zu dick ist, ist es sein Hund oft auch. Tiere müssen eben artgerecht gehalten werden“, sagt Bergler. Artgerecht – ein weites Feld. „Wenn ein Tier gestört ist, muss der Besitzer sein Verhalten ändern, das ist wie in einer schlechten Ehe“, mahnt der Psychologe.

Minna H. (92) aus dem brandenburgischen Neuruppin hat keinen Ehemann mehr, und die Kinder kommen auch selten zu Besuch. Sie ist bettlägerig, pflegebedürftig und ein anstrengende alte Dame. Dauernd klagt sie über Schmerzen und ihre Unglück, erzählt jedem, der es nicht wissen will, immer wieder die gleichen Geschichten. Wie sie von den Russen vergewaltigt wurde. Wie schlecht ihr Ehemann sie behandelt hat. Wie undankbar die Kinder sind und wie furchtbar die Welt ist und das Essen. Dann kam Mitzi in ihr Leben, eine kleine Katze mit Tigerstreifen.

Seitdem hat „Oma“ eine Beschäftigung, spielt mit Mitzi und erzählt ihr die immer gleichen Geschichten. Seitdem müssen sich seltene Besucher nicht mehr über das offene Bein und die schlechte Verdauung unterhalten, sondern über Mitzi. Allen ist seitdem geholfen, auch wenn Oma die kleine Mitzi ab und zu mit der Fliegenklatsche vertrimmt, wenn sie nicht spurt („Hat meinen Kindern auch nicht geschadet“).

Mitzi hat seit kurzem ein ziemlich neurotisches Flackern in den Augen. Das ist eben der Preis, den Mitzi für ein von existenziell-evolutionären Sorgen befreites Dasein mit Katzenklo, Whiskas und Dach über dem Kopf bezahlen muss. Bei mangelnder Funktionsfähigkeit wäre sie vor noch nicht allzu langer Zeit einfach in der Regentonne ersäuft worden, in ihrem Fall kommt bloß der Tierpsychologe.