Wie von Hopper gemalt: Teuer fühlen
Ich liege auf meiner Chaiselongue und lese ein Sachbuch. Sachbücher sind oft viel lustiger als deutsche Romane. In diesem Sachbuch also lese ich: „Es lohnt sich, einen genauen Blick auf die Vagina zu werfen.“ Dummerweise steht mir gerade keine zur Verfügung, aber ich muss sowieso in den Monarch, um bei einer Lesung von Franz Dobler an der Kasse zu sitzen und Eintritt zu kassieren.
Da die Lesung mit unterschiedlichen Anfangszeiten angekündigt ist, habe ich Zeit und setze mich an die Bar und gucke aus der breiten Fensterfront auf den nächtlichen U-Bahn-Ausgang am Kottbusser Tor. Das ist sehr meditativ. Ich sehe Menschen zu, wie sie die Skalitzer Straße bei rot überqueren. Jeder hat seine eigene Technik, eilig verhuscht, betont lässig Autos ignorierend, mit eingezogenem Kopf, schwankend, eiernd, trippelnd. Ich bin mit dem Barkeeper ganz allein und komme mir vor wie eine Nachteule in einem Gemälde von Edward Hopper. Ich fühle mich sehr gut und irgendwie extrem teuer.
Die ersten Gäste schicke ich wieder weg, weil sie Franz Dobler nicht kennen. Die anderen zahlen. Zwei zahlen sogar dafür, um vor der Lesung noch schnell einmal am Flipperautomaten zu flippern und wieder zu gehen.
Nach der Lesung müssen wir das Monarch verlassen, weil wir nicht das vorgeschriebene Alter haben. Die Musik und ihre Lautstärke ist speziell für die U30-Altersgruppe ausbalanciert. Wir exilieren in die Rote Rose, einem Refugium für Gestrandete. Hinten in der Ecke vor dem Klo sitzen zwei sehr junge Mädchen, die sogar noch zu jung für das Monarch wären. Eine Gruppe von sechs stark gestikulierenden und lauten Testosterontürken betritt das Lokal. Nach einem kurzen Disput mit dem Wirt gehen sie wieder. In Begleitung der beiden Mädchen, die Klapse auf den Hintern bekommen. Vielleicht haben sie ja auch das Sachbuch gelesen. KLAUS BITTERMANN
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