Soldaten Gottes im Aquarium

AUS MADRID REINER WANDLER

So sieht also einer aus, der am Mord an 192 Menschen beteiligt gewesen sein soll. Dunkles, gelocktes Haar, Dreitagebart, ein lässig über die Schultern gehängter Pullover, gestreiftes Hemd, Jeans. Nur die Handschellen und fehlenden Schnürsenkel erinnern daran, dass die spanische Justiz ihn für einen radikalen Islamisten hält. Jamal Zougam setzt sich langsam auf den Stuhl gegenüber dem Richtertisch. Einer der drei Beamten, die den 31 Jahre alten Marokkaner hereingeleitet haben, nimmt ihm die Handschellen ab.

Zougam gilt als eine der wichtigsten im Geflecht derer, die das Massaker in den Pendlerzügen von Madrid am 11. März 2004 geplant und verübt haben sollen. In seinem Telefonladen im Madrider Stadtteil Lavapiés wurden die Telefone präpariert, mit denen die Bomben gezündet wurden. Zougams Fingerabdrücke fanden sich in der Bombenwerkstatt, einem Gartenhaus außerhalb der Hauptstadt, sowie in einem Lieferwagen, mit dem die Täter die Sprengsätze transportiert hatten. Außerdem wollen mehrere Überlebende den gut aussehenden Lockenkopf in einem der Todeszüge mit einem schweren Rucksack gesehen haben.

Der angeklagte Zeuge

Doch deshalb ist Zougam nicht geladen. Heute soll er als Zeuge aussagen. Verhandelt wird nicht der 11. März von Madrid, sondern ein anderes Verbrechen: der 11. September 2001, der Tag, an dem drei entführte Verkehrsmaschinen ins World Trade Center in New York und ins Pentagon in Washington krachten.

24 mutmaßliche Islamisten sitzen auf der Anklagebank. Bis auf drei, die auf freiem Fuß sind, folgen sie der Verhandlung vom „Aquarium“ aus – so nennen die Spanier den kugelsicheren Glaskasten mit den acht Holzbänken im Gerichtssaal. Die Männer sollen unter dem Namen „Soldaten Gottes“ Kämpfer nach Afghanistan in die Al-Qaida-Camps von Ussama Bin Laden geschickt haben. Außerdem sollen ihre Anführer – der Syrer Eddin Barakat Yarkas alias „Abu Dahdah“ und der Marokkaner Driss Chebli – die letzten Vorbereitungen für den 11. September ermöglicht haben. Der Chef der Todespiloten, der Hamburger Student Mohammed Atta, reiste im Juli 2001 nach Spanien, um sich dort mit Ramsi Binalshibh und Said Bahadschi zu treffen. Später fand die Polizei in BahadschisTelefonbuch Abu Dahdahs Telefonnummer.

Der dritte Hauptangeklagte, der Syrer Ghasoub Abrash Ghalyoun, soll Videoaufnahmen von den New Yorker Zwillingstürmen an den Al-Qaida-Kurier Bahadschi weitergegeben haben.

Für die Ermittlungen, die zur Anklage gegen die 24 von Madrid führten, zeichnet der durch seinen Haftbefehl gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet zu internationalem Ruhm gelangte Richter Baltazar Garzón verantwortlich. Den Vorsitz im Prozess hat jetzt ausgerechnet Javier Gómez Bermúdez, Garzóns ewiger Rivale in der Audiencia Nacional, dem obersten spanischen Strafgerichtshof. Zuletzt trafen die beiden vor einem Jahr aufeinander, als ein Vorsitzender für die Strafkammer an der Audiencia gesucht wurde. Garzón, der Kandidat der fortschrittlichen Minderheit, unterlag gegen Gómez Bermúdez.

„Von Händler zu Händler“

Heute will Staatsanwalt Pedro Rubiro von Jamal Zougam wissen, ob er Abu Dahdah gekannt habe. „Nur flüchtig, von Händler zu Händler im Stadtteil Lavapiés“ eben, antwortet der mit ruhiger Stimme in perfektem Spanisch. Zougam kam im Alter von 15 Jahren nach Spanien. „Ich habe immer gearbeitet, in dem, was sich mir gerade geboten hat: auf dem Bau, in Restaurants, als Händler“, erklärt er. Plötzlich, nach einer kurzen Pause, setzt der junge Mann erneut an, diesmal bestimmter: „Bis zum 13. März, als sie in meine Laden kamen, um mich festzunehmen und mich vor aller Welt im Fernsehen zu zeigen und meinen Namen öffentlich zu machen.“

„Beschränken Sie sich darauf, die Fragen des Staatsanwaltes zu beantworten“, fährt der Vorsitzende Gómez Bermúdez dazwischen und macht damit seinem Ruf als harter Richter alle Ehre. Egal ob Angeklagter, Anwalt oder Gerichtsdiener – jeder muss damit rechnen, von ihm mit knappen Worten in die Schranken gewissen zu werden. Immer wieder zeigen die spanischen Hauptnachrichten diese Szenen.

Denn das Verfahren wird gefilmt, die Bilder live in den Presseraum im Keller des Gerichtsgebäudes übertragen. „Im 21. Jahrhundert kann man doch die Kameras nicht ausschließen“, erklärt Richter Gómez Bermúdez dazu vor Beginn des Sitzungstages einer Delegation bulgarischer Beobachter. Er sei überzeugt, dass weder Richter noch Staatsanwälte noch Strafverteidiger das Recht auf das eigene Bild haben. „Und das, obwohl ich als Richter an der Audiencia Nacional gefährdet bin wie sonst kaum jemand.“ Denn hier, am obersten Strafgerichtshof werden auch die meisten Verfahren gegen die baskische Separatistenorganisation ETA geführt. Gómez Bermúdez und alle seine Kollegen haben deshalb Leibwächter und gepanzerte Wagen. Rund um die Uhr ist in den Wohnungen der Richter ein Polizeibeamter.

Nur in den Verhandlungspausen taut Gómez Bermúdez auf. Dann holt er sich am Getränkeautomaten im Flur einen Kaffee und begibt sich hinab in den Presseraum. „Off the records“ gibt er dann seine Eindrücke, Pläne und Anekdoten zum Besten. Der kleine, stämmige Mann ist dann einfach „Javier“. Die meisten Berichterstatter kennt er beim Vornamen. Neue beobachtet er aus dem Augenwinkel, ob auch sie seinem Sprachwitz verfallen. Nach dem Medien-Bad verfügt er sich – mit einiger Verspätung – abermals hinauf in den Gerichtssaal. Wenn die Angeklagten im Glaskasten Platz genommen haben, ruft er erneut einen Zeugen auf, weist ihn auf die Strafen für Falschaussagen hin und erteilt dem Staatsanwalt das Wort.

Abu Dahdahs Truppe

Der Saal wurde für den Prozess eigens eingerichtet. Zu unsicher erschien den Richtern der Audiencia Nacional ihr Gebäude in der Madrider Innenstadt. Deshalb wurde ein allein stehendes, unscheinbares Backsteingebäude auf dem alten Messegelände, der „Casa de Campo“, umgebaut: Gitter sperren den Hof zur Straße hin ab, acht Zellen wurden im Keller eingebaut, ständig werden die Frequenzen gescannt, um mögliche Bomben mit Fernbedienung auszumachen, ein Hubschrauber kreist über dem Gebiet.

Nach diesem Verfahren soll hier der politische Apparat der ETA abgeurteilt werden, und ab dem kommenden Frühjahr wird der 11. März verhandelt. Dann wird so mancher der jetzigen Angeklagten die Bank im Aquarium mit dem heutigen Zeugen Jamal Zougam teilen. Denn unzählige Indizien deuten auf Querverbindungen zwischen Abu Dahdahs Truppe und den Attentätern von Madrid hin.

Zu Beginn jedes Sitzungstages werden die Angeklagten in einem gepanzerten Bus zum Gerichtssaal gefahren. Zwei Geländewagen der Guardia Civil flankieren ihn. Sobald der Konvoi die Stadtautobahn verlässt, stoßen die Beamten auf dem Rücksitz die Türen auf. Sie schwingen sich aufs Trittbrett, in der Hand eine schussbereite Maschinenpistole.

Die scharfen Sicherheitsmaßnahmen wollen so gar nicht zum Bild der Männer im Glaskasten passen. Keiner entspricht dem Klischee eines gefährlichen Islamisten: keine langen Bärte, keine traditionellen Gewänder, Chef Abu Dahdah ist modisch gekleidet. Nichts erinnert an den rundlichen Araber im dunklen Anzug, der auf Pressefotos zu sehen war – der 42-Jährige hat in der Haft mehr als zehn Kilo abgenommen. Rasierter Schädel, gepflegter Stoppelbart, weißes Hemd und modische Wildledermokassins – der Mann ist gekleidet, als hätte er ein Rendezvous. Ruhig folgt er Zougams Aussage.

Die anderen Angeklagten tun es ihm gleich. Kaum einer redet. Ihre Gefühlsregungen beschränken sich auf ein kurzes Winken, ein Lächeln in Richtung der Angehörigen und Freunde im Zuschauerraum zu Sitzungsbeginn. Selten beugt sich einer zu seinem Banknachbarn, um ihm etwas zuzuflüstern. Nur einer, mit modischer Sonnebrille hinten in der Ecke, murmelt die ganze Zeit vor sich hin. Betet er? Der Glaskasten ist schalldicht.

Abu Dahdah schmunzelt immer wieder. „Von Händler zu Händler“ kenne man sich – so haben auch andere immer wieder ihr Verhältnis zu dem Mann beschrieben, der laut Anklageschrift Bin Ladens Mann in Spanien sein soll. Von „Händlern“ ist auch in vielen der abgehörten Telefonate die Rede gewesen. Für die Ermittler handelt es sich dabei um das Codewort für „Kämpfer“. Und immer wenn Abu Dahdah und die anderen vom „Weg in die Fabrik“ redeten, sei damit eine Reise in die Camps nach Afghanistan gemeint. Dies zu beweisen ist jetzt die Aufgabe des Gerichts.

Zougams Aussage freilich hilft dabei nur wenig weiter. „Bis zu seiner Verhaftung wusste ich nicht einmal seinen Nachnamen“, bestreitet er erneut jeden engeren Kontakt zu Abu Dahdah. Er will auch nie etwas von Reisen nach Afghanistan, Tschetschenien oder Bosnien mitbekommen haben. „Niemals hat mich jemand in Lavapiés auf den Krieg angesprochen. Mein einziger Krieg ist es, meiner Familie zu helfen: mein Vater hat sieben Kinder mit seiner neuen Frau in Marokko und verdient 150 Euro im Monat. Ich helfe ihm durchzukommen“, erklärt er.

Staatsanwalt Rubira hat keine weiteren Fragen. Die Verteidiger auch nicht. Als Zougam abgeführt werden soll, geht er einen Schritt auf den Richter zu. Zwei Beamte stellen sich ihm in den Weg. „Kann ich noch etwas sagen?“, fragt er. Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt er fort: „Die behandeln mich sehr, sehr schlecht in der Haft. Ich habe mich beschwert, doch sie sagen, ich sei eine gefährliche Person.“

„Abführen!“, sagt Richter Gómez Bermúdez. Aus den Saallautsprechern tönt das Geräusch sich schließender Handschellen.