Theater gegen den Strich

FESTIVAL In Oldenburg läuft noch bis zum Sonntag das Pazz-Festival. Das Staatstheater stellt internationale Produktionen vor, die die Grenzen des Theaters sondieren

In „Zehn Reisen zu einem Ort, an dem nichts passiert“ wird das Publikum mit köstlichen Pfannküchlein empfangen

VON ANDREAS SCHNELl

In meiner Zeit als Englischdozent in der Erwachsenenbildung gab es auch manchen Anglizismus zu deuten. In Zeiten, wo selbst eine Aktie eine Performance hinlegt zum Beispiel, ebendiesen Begriff. Im Englisch-Wörterbuch finden sich wesentlich zwei Bedeutungen für Performance: die eine ist Leistung, die andere Darbietung. Die Performing Arts sind natürlich vor allem darbietende Künste. Was aber über ihren Inhalt kaum etwas sagt. Dabei ist andererseits der Begriff – ähnlich wie der der freien Improvisation in der Musik – enger, als er zu sein vorgibt.

Wo es in der freien Improvisation nicht zuletzt darum geht, Instrumente gegen den Strich zu spielen und jegliche geronnene Form zu meiden, was ja auch wieder Konvention schafft, grenzen sich die Performing Arts vom klassischen Guckkastentheater ab. Der Performer ist – um im Englischen zu bleiben – kein Actor. Er führt nicht aus, was ein Autor schreibt. Er ist – in der Regel – selbst Autor. Und bietet etwas dar. Oft von sich.

Wie vielfältig diese Kunst ist, ist noch bis Sonntag in Oldenburg zu besichtigen. Halt! Besichtigen trifft es nicht. Erfahren schon eher. Wer zum Beispiel am Programmpunkt „Coffee & Prejudice“ teilnimmt, wird allein in eine Stube an einen Kaffeetisch geführt und bekommt einen Kopfhörer aufgesetzt. Dann kommen einer nach dem anderen drei Menschen, deren Stimmen der Betrachter oder die Betrachterin per Kopfhörer hört. Geschichten aus dem Leben der Menschen, die einem schweigend gegenübersitzen. Normale Geschichten, bizarre Geschichten, ergreifende Geschichten. Und immer versehen mit dem gelegentlich dramatisch verzögerten: „Das stimmt – nicht.“ Oder eben doch. Die Sache mit dem Wäschefetischisten zum Beispiel, der in Kaufhäusern die Damenwäsche-Abteilung aufsucht und in der Umkleide in Büstenhalter onaniert. Stimmt. Nicht. Der Mann sitzt vor Ihnen. Schaut Sie unverwandt an. Und bis zum erlösenden „nicht“ könnte er genau diesen Fetisch haben.

„Coffee & Prejudice“ ist eine von rund 30 Produktionen, die in 100 Aufführungen seit vergangenem Freitag in Oldenburg rund um die Exerzierhalle und über die Stadt verteilt zu sehen sind. Neben Stadtführungen durch „Utopians In Residence“ und anderen kleinen Formaten gibt es aber auch die Inszenierung auf der Bühne. Marc Beckers „Avanti Infantilitanti“, das am vergangenen Freitag vor der Exerzierhalle zur Pazz-Eröffnung uraufgeführt wurde, ist dann schon fast klassisches Theater, mit Schauspielern des Staatstheater-Ensembles, ohne Interaktion mit dem Publikum – wenngleich weitgehend ohne Text. Wir werden dabei Zeuge eines Kindergeburtstages mit allem, was dazugehört. Nur dass die drei männlichen und der weibliche Gast Erwachsene sind, die Kinder spielen. Vielleicht sind sie aber auch Erwachsene, die Erwachsene spielen, die Kinder spielen. Während sich der Kindergeburtstag sich über eineinhalb Stunden mit gnadenloser Konsequenz und zu Live-Musik auf Schlagzeug und E-Gitarre fortsetzt, Eierlaufen und Doktorspiele inklusive, gibt es Brüche, die auf Letzteres hindeuten. Aber nicht aufgelöst werden. Was schließlich unbefriedigend ist, weil die Verheißung, etwas über unsere Gesellschaft zu erfahren, nicht eingelöst wird und das Stück nach einem furiosen Beginn zu versanden beginnt.

Ganz anders „Das ist mein Vater“ von Ilay Den Boer. Mit seinem Vater Gert taucht er in die Familiengeschichte ein, wobei das Publikum Fragen stellen darf. Unterschiede, Gemeinsamkeiten – das ist lustig, der Vater eine, Pardon!, Rampensau, der im Publikum herumfragt, ob nicht jemand ein bisschen Haschisch zu verkaufen habe. Aber dann wird man unversehens hineingesogen in einen Teil der Vergangenheit, der alles andere als lustig ist. Fußball ist die große gemeinsame Leidenschaft von Ilay und Gert. Weil Ilay Den Boer Sohn einer Israelin ist, ist er Jude. Und als solcher wird er in der Fußballmannschaft gemobbt. Der Vater kann darin beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen, Dummheit, Gedankenlosigkeit, das durchaus, aber eben keinen Antisemitismus. Ein Abend, der unter die Haut geht.

Wieder ganz anders: „Zehn Reisen zu einem Ort, an dem nichts passiert“ von Juha Valkeapää und Taito Hoffrén, wo das Publikum mit köstlichen, frisch zubereiteten Pfannküchlein empfangen wird. Und nichts passiert. Zunächst jedenfalls. Nur ein paar Geschichten werden erzählt im Zelt, das Teil der Container City ist, ein Ort der Begegnung, wie das Zelt im Kleinen. Zwar driften die „Zehn Reisen“ auf vielleicht genuin finnische Weise in Richtung Vorführung, was dem Ganzen ein wenig Wirkung nimmt. Aber es passt wunderbar zum Pazz an und für sich, wo einen an jeder Ecke etwas überraschen kann, neue Begegnungen, bei denen man sich nicht immer sicher ist: Ist das jetzt Kunst? Bemerkenswert, dass ein Staatstheater in einer Stadt wie Oldenburg solch ein Festival erfolgreich etabliert hat.

■ Bis Sonntag in Oldenburg, alle Termine im Internet auf pazzfestival.de