wortwechsel
: Die Pisa-Weltmeisterschaft: „Kindern geht es schlecht!“

Das schlechteste Zeugnis für Deutschlands Schulen seit 22 Jahren? Kinder sind nicht blöde – sie baden die Erwachsenenfehler eines maroden Bildungssystems aus. Was fehlt ihnen?

Ausbildung braucht Ausdauer. Und Konzentration. Den Rahmen aber bilden gut ausgestattete Klassen­zimmer und ausgeruhte LehrerInnen (hier nicht im Bild) Foto: Maskot/plainpicture

„Lehren aus der verheerenden Pisa-­Studie: Ein Ruck nach dem Schock“,

taz vom 8. 12. 23

Pythagoras, hilf?

Und ausgerechnet der Satz des Pythagoras verhalf mir zu einem rechtwinkligen Fundament für das Gartenhaus. Okay, es lagen mehrere Jahrzehnte zwischen der Lehrerfahrung und der tatsächlichen Anwendung … Christian Vogel, Thüringen

Alle sprechen wieder vom dramatischen Absturz einer ganzen Bildungsnation und können sich kaum mit drastischen, negativen Zuschreibungen zurückhalten. Die Frage ist aber auch, inwieweit es Sinn macht, die verschiedenen Staaten mit ihren unterschiedlichen Schulsystemen überhaupt zu vergleichen. Zudem bin ich mir nicht sicher, ob immer alle an der Studie beteiligten Länder die gleichen Standards verwenden.

Klaus Waldhans auf taz.de

Alibi-KMK-Geschwafel?

Seit 1995 befinden sich in meinem einstigen Arbeitszimmer in sieben voluminösen Leitz-Ordnern ungezählte Artikel über das deutsche Schulsystem. Fazit: Hilflosigkeit und bodenlose Heuchelei seit einem halben Jahrhundert. Verantwortlich allein ist die Hohlphrasigkeit der Alibi-KMK-Schwafel-Treffen. Möglicherweise der Hauptgrund für den Niedergang der Bildung ist die umstrittene Pisa-Studie im Jahre 2001. Die Kultusminister der Bundesländer sagten sich plötzlich: „Huch! So schlecht sind wir im internationalen Vergleich?! Wir müssen unseren Bildungs­standard umgehend erhöhen!“ Das taten die Fachidioten indes mitnichten, sondern sie senkten das Bildungsniveau enorm! Gute, sehr gute Noten wurden den Gymnasiasten inflationär nachgeworfen, und siehe da: „Deutschland“ war wieder „besser“ geworden. Ein Selbstbetrug ohnegleichen. Im Jahre 1964 erschien ein Bestseller: „Die deutsche Bildungskatas­trophe“. Seitdem hat sich nichts geändert.

Peter Kaschel, Recklinghausen

Mehrheitlich haben Menschen Kinder. Es gäbe also eine Lobby für gute Kitas und Schulen – doch ist dem nicht so. Eltern, die es sich leisten können, kämpfen keineswegs für gute Schulen für alle, sie schicken ihre Kinder auf besondere Schulen. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Toni Zweig auf taz.de

Clash der Generationen?

Die älteren Entscheider haben einen anderen Background. Die älteren Generationen hatten auch große Klassen, keine Sozialarbeiterinnen in den Schulen, marode Klos, oft keinen Kindergartenbesuch, geschweige denn ein Bildungsprogramm in einer Kita – und doch ist das Land wirtschaftlich immer stärker geworden. Daher ist es vielleicht schwer, die heutigen Notwendigkeiten anzuerkennen. Fly auf taz.de

Unser „way of life“ bietet den Jugendlichen die Illusion, dass das Leben in der digitalen Welt nicht mehr das „Lernen“ im klassischen Sinn braucht: Als Influencer brauche ich keinen guten Schulabschluss … Hinzu kommt die Not vieler Eltern. Sie sind angestrengt, gestresst, viele sind eher auf sich selbst fixiert: 30 Prozent der Kinder bekommen keine Geschichten mehr vorgelesen. Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Neubewertung der Bildung. Überwasredenwirhier­eigentlich auf taz.de

Wenn 30 Prozent der Kinder keine Geschichten mehr vorgelesen bekommen, dann ist das nicht automatisch die „Not“ der Eltern. Kann auch sein, dass die Eltern selbst lieber an ihrem Handy herumtippen. Ich reite so beharrlich auf den Handys herum, weil die Dinger gigantisch Zeit fressen. Der Zwerg auf taz.de

Wer überfordert wen?

Hintergrund ist die gesellschaftliche Grundhaltung, die keinen gesteigerten Wert auf Bildungserfolge legt, sondern viel mehr darauf achtet, bloß niemanden zu überfordern. Kindern und Jugendlichen kann man das nicht anlasten, denn sie übernehmen die allgemeinen Erwartungen. Frauke Z. auf taz.de

@Frauke Z. Ich finde ihren Erklärungsansatz wirklich bedenkenswert. Doch es gibt auch einen ganz anderen: Wir leben in einer Welt der permanenten Überforderung und Ablenkung, in der Konzentration zerstreut wird und das Hamsterrad nicht zum Stillstand kommt. ADHS und Depression sind die Grundübel unserer Zivilisation und diese setzen schon bei jungen Menschen ein (oder bei deren Eltern).

Es ist eine Angst vor dem Stillstand, die diese Generationen zunehmend fertigmacht und auch systemisch können wir nur noch mit immer weiter sich steigernder Geschwindigkeit die Balance halten. Es ist schwierig, in das sich so schnell drehende Rad einzuspringen. Manche haben von Anfang an keine Chance dazu. Was soll sie dann noch dazu motivieren, es zu versuchen? Niemand hält für sie das Rad an. JK83 auf taz.de

Kindern geht es schlecht

Ich war Lehrerin. Die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie sind erwartbar gewesen und „schuld“ ist nicht der oft hohe Migrantenkinder-Anteil in den Klassen, wie jetzt häufig zu hören ist. So wird die Misere nur evident. In den Berufsschulklassen meines Mannes sind Jugendliche aus Syrien oder Afghanistan oft „Leuchttürme“, weil sie lernen wollen und auch Ausbildungen annehmen, die nicht unbedingt ihren Traumvorstellungen entsprechen.

Die schlechten Ergebnisse sind Ausdruck eines viel umfassenderen Problems. Kindern geht es oft schlecht: Schlafmangel, viel zu wenig Bewegung, immer mehr Sprachstörungen, Konzentrationsprobleme, Übergewicht, Gewalt in der Familie, sexueller Missbrauch, zunehmend Inobhutnahmen, mangelhafte Grob- und Feinmotorik, wenig Allgemeinwissen, Depressionen, schlechte Zukunftsaussichten individuell und gesamt gesehen.

Die Probleme sind nicht allein durch bessere Schulen zu verändern. Eltern sind in der Verantwortung, Kitas, Schulen, Ärzte und Ärztinnen, Politiker:innen!

Silvia Thoma