Von der Hamburger Krankheit infiziert

Schleswig-Holsteins Flüchtlingsrat befürchtet, dass die neue Landesregierung dem Hamburger Vorbild folgte: Nicht nur das Vorgehen gegen eine traumatisierte Kurdin in Norderstedt deutet auf eine verschärfte Abschiebe-Praxis hin

Die Staatsgewalt kam um 4 Uhr morgens – und sie war unerbittlich: Obwohl Frau Özdemir einen Nervenzusammenbruch erlitt, obwohl Herr Özdemir mit Selbstmord drohte, wurde die kurdische Familie aus einer Flüchtlingsunterkunft in Norderstedt weggebracht und die Frau mit zwei Kindern abgeschoben. Nur Hadin, dem 17-jährigen Sohn, gelang die Flucht.

„Das ist ein Verwaltungshandeln, das in Schleswig-Holstein bisher nicht bekannt war“, sagt Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrates. Und er fürchtet: „Die Hamburger Krankheit überträgt sich in den Speckgürtel.“ Bisher galt die Abschiebepraxis im nördlichsten Bundesland als vergleichsweise liberal. So sitzen in der Härtefallkommission des Landes neben Vertretern der Behörden auch Fachleute von Nicht-Regierungsorganisationen – das ist nur in wenigen Bundesländern der Fall.

Von guter Zusammenarbeit mit den Ämtern berichtet Behjat Moaali vom Kieler Verein „Refugio“, der sich um traumatisierte Flüchtlinge kümmert. Die Behörden warteten die Stellungnahmen der Psychologen ab und entschieden fast immer zu Gunsten der Flüchtlinge. Bei kniffeligen Fragen half manchmal ein Gespräch mit dem bisherigen Innenminister Klaus Buß. Durch den Regierungswechsel sei man nun „in einer Übergangsphase“, so Link. Der Minister nämlich hat stets das letzte Wort – und wie der neue Mann im Amt, Ralf Stegner (SPD), sich verhält, ist noch unklar: „Wenn er den Ausländerbehörden nicht sagt, dass der Stil im Umgang mit Familie Özdemir nicht seinen Vorstellungen entspricht, werden wir solche Fälle häufiger erleben“, fürchtet Link.

Schon bisher galt, dass die Landkreise die Gesetze unterschiedlich auslegten. Und problematisch sei auch, dass das Bleiberecht an den schwammigen Begriff „Integrationsleistungen“ gekoppelt sei: Wer Arbeit hat, Deutsch spricht, am besten in der Feuerwehr aktiv ist, wird eher geduldet. „Vielen Flüchtlingen ist es aber fast unmöglich, diese Leistungen zu erbringen“, erläutert Link. Moaali, die traumatisierten Flüchtlinge vor Augen, fordert, dass nicht nur geprüft werden müsse, ob jemand flugfähig sei, sondern auch, ob die Gefahr einer Re-Traumatisierung bestehe. Im Fall von Frau Özdemir – sie wurde in einem türkischen Gefängnis misshandelt – sei diese Gefahr akut: „Sie trifft wieder auf die Täter.“ Zurzeit ist sie in Istanbul bei Verwandten untergekommen. Ihr Mann ist noch in Haft. Die Hilfsorganisationen versuchen, dem Sohn ein Bleiberecht zu verschaffen: Er steht kurz vor seinem Schulabschluss.

Den Flüchtlingsrat beunruhigen auch zwei weitere Fälle: Familie Landu in Rendsburg und Familie Kocan in Neumünster. Beide leben schon viele Jahre in Deutschland. Für solche Fälle müsse es klare Richtlinien geben, fordert Link: „Es müsste ein Schlussstrich gezogen werden für diese Menschen. Es handelt sich ja um Familien, die zur Integration bereit sind.“ Das staatliche Schielen auf „Integrationsleistung“ führt zu absurden Schieflagen: So sollen die Kinder der Familie Kocan, die in Neumünster zu Schule gehen, bleiben dürfen – den Eltern droht die Abschiebung. „Der Widerstand der Politik gegen das Bleiberecht ist irrational“, so Link. Es gehe um bundesweit rund 200.000 Menschen. Für deren Abschiebung werde ein immenser und kostenintensiver Verwaltungsaufwand betrieben: „Wenn bekannt wäre, wie teuer so ein Verfahren ist, würden die Abschiebungen ratz-fatz aufhören.“

Esther Geißlinger