Kopflastige Einsamkeit

Johannes von Westphalen, Regisseur und Übersetzer, inszeniert ein Stück über Flüchtlinge. Und scheint deren Geschichten doch eher als Vorwand für sein eigentliches Thema zu sehen: Angst vor Vermassung und Beschleunigung

Nach modernen Maßstäben existiert dieser Jean-Frédéric Paix praktisch nicht. Die Suchmaschine Google liefert beinahe ausschließlich Treffer, die in Zusammenhang mit der Inszenierung seiner Textcollage „refuge“ im Tacheles stehen. Regisseur Johannes von Westphalen hat sich des Textes von Paix, einem laut Presseinfo „noch weithin unbekannten französischen Autor“, angenommen, diesen auch übersetzt und mit eigenen Ergänzungen unter dem perfiden Titel „Refugee go home“, Flüchtling, geh nach Hause, auf die Bühne gebracht.

Damit setzt von Westphalen, Preisträger des Übersetzerstipendiums „Transfer Théâtral“ 2002, den mit der Gründung seiner freien Gruppe drame 1999 eingeschlagenen Weg fort: zeitgenössische internationale Dramatik dem deutschen Publikum durch Übersetzungen, szenische Lesungen und Inszenierungen zugänglich zu machen. Nach Produktionen zwischen 1999 und 2002 an verschiedenen Theatern in Berlin, zur Kulturhauptstadt Weimar 1999 und zum Internationalen Kulturfestival JUNGE KUNST 2002 in Thüringen war drame von 2002 bis 2004 am Maxim Gorki Theater engagiert. Seit 2004 hat drame in den Sophiensælen, dem Kleist-Forum Frankfurt/Oder und dem Tacheles produziert. Eine schöne Analogie, dass Westphalen dort jetzt den Text eines Autors inszeniert hat, den keiner kennt, über Menschen, die und vor allem deren Geschichten keiner kennen will – die anonymen Massen von politischen Flüchtlingen.

Genau da nämlich setzt der aus Interviews mit Betroffenen entwickelte Text an. Er erzählt diese Geschichten detailreich und knapp zugleich, „niemand der spricht nur das knirschen der räder im schnee & eine mutter wickelt ein baby in zeitungspapier & wirft es in den schnee wo der wind den schnee wegfegt spiegelglatte straßen die helle blendet“. Ein Gesicht dagegen gibt Paix diesen individuellen Tragödien nicht, seine Figuren – wenn man davon überhaupt sprechen kann – heißen „A“, „B“, „C“ und „D“. Auch Johannes von Westphalen macht in seiner Inszenierung von vornherein klar, dass es um Subjektivität nicht geht. Die vier, zwei Frauen, zwei Männer, treten im Gegenlicht auf, man kann ihre Gesichter nicht erkennen. In jeweils ganz in nur einer Farbstellung gehaltenen Kostümen stehen sie aufgereiht hinter einem riesigen Stahlgerüst, das an Fensterrahmen erinnert: Sie sehen in die Welt, doch die Welt sieht sie nicht.

Zu dieser indirekten Betonung der Texte kommt eine ganz direkte: Von Westphalen lässt seine insgesamt sieben Schauspieler durch Mikroports sprechen – aber nur solange sie die stählerne Schwelle zum vorderen Bühnenteil, einer spiegelglatten Fläche aus Marmorimitat, nicht überschreiten. Hinten Rezitation, vorne Begegnung: Ein Vater gratuliert seinem Sohn nicht zum Geburtstag, woraufhin dieser sich selbst ein trotziges Geburtstagslied singt: „Happy Birthday to me!“. Eine Frau wirft sich einem Mann an den Hals, der sich aus der Umarmung löst und sich schließlich entschuldigt.

Wofür, fragt man sich. Diese und andere Episoden, die allesamt in der Textvorlage fehlen, wiederholen sich im letzten Drittel der knapp 90-minütigen Aufführung. Diese Redundanzen sollen dem Zuschauer zeigen, dass das, was man für eine Figur mit Innenleben gehalten hat, doch nur ein namenloser Vertreter eines Gefühls ist: Einsamkeit. Für Johannes von Westphalen ist Einsamkeit heute kein persönliches Drama, sondern Ausdruck von Vermassung. Damit folgt er der im Programmheft abgedruckten These von Marc Augé, der „die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen“ mit den Durchgangslagern gleichsetzt, „in denen man die Flüchtlinge kaserniert“.

Viel Theorie, wenig Gefühl. Das Anliegen der Inszenierung ist ehrenwert, doch springt der Funke leider nicht über. Man verlässt das Theater ähnlich unberührt, als habe man gerade einer Lesung aus dem Telefonbuch beigewohnt – was angesichts der Brisanz des Themas verstört. Zu streng komponiert, zu steif choreografiert kommt die zweite Produktion der freien Theatergruppe drame in diesem Jahr in Berlin daher. Weniger Konzept, weniger intellektueller Überbau wäre mehr gewesen.

DAVID DENK

„Refugee go home“, im Tacheles Berlin, bis 12. Juni, täglich 20.30 Uhr