Die Motte ist nicht mehr so sexy

Die Miniermotte wird die Kastanien dieses Jahr allenfalls durchschnittlich heimsuchen, prognostiziert das Pflanzenschutzamt. Oooch nee, warum dann schon wieder ein Text über dieses Vieh, fragen Sie? Ganz einfach. Er handelt von Liebe, Sex und Tod

VON ULRICH SCHULTE

Die Miniermotte hat dieses Jahr nur mittelprächtigen Sex. Die Populationszahlen des Pflanzenschutzamtes lassen keinen anderen Schluss zu. Jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass im Mottenhirn ein gelungener Akt untrennbar mit erfolgreicher Vermehrung verknüpft ist. „Wir werden eine etwas stärkere Belastung als 2004 haben, doch so stark wie im Supersommer 2003 wird es keinesfalls“, sagt Barbara Jäckel vom Pflanzenschutzamt – und prognostiziert einen Befall von 50 bis 60 Prozent in der Stadt. Durchschnitt eben. Muss man sich Sorgen machen? Tote Hose in Berlins bekanntesten Liebesnestern?

Keinesfalls, nach wie vor geht es wild zu auf den 48.000 weiß blühenden Kastanien der Stadt, und das Sexualleben des Tierchens verdient jede Würdigung. Die Motte setzt nämlich drei Generationen in die Welt. Pro Jahr, versteht sich, und manchmal, wenn es ganz toll läuft wie im Supersommer 2003, schafft sie noch eine mehr. Die erste Generation ist jüngst dahingeschieden, ihr Schaffen ist als steile Spitze in der Flugverlaufs-Grafik der Pflanzenschützer vermerkt. Am 25. Mai zählten sie im Schnitt 1.600 Tierchen pro Falle, 2004 waren es nur 780. Im Mottenjahr 2003 blieben teils über 3.000 hängen. „Die zweite Generation wird in zwei Wochen schlüpfen“, sagt Jäckel. Dann steigen die Zahlen der gefangenen Motten, die Anfang Juni niedrig lagen, wieder an.

Allein für dieses „In-die-Falle-Tappen“ verdient das oft heruntergeschriebene Insekt Sympathie, denn es wählt den Tod aus Leidenschaft. Das Pflanzenschutzamt hat 12 Fallen in der Stadt verteilt, sie versetzen die Mottenmännchen in einen Liebestaumel. Ein Pheromon, der weibliche Sexuallockstoff, strömt aus einem von einer porösen Gummimembran ummantelten Zylinder. Man muss sich diesen Duft wie den einer Motten-Monroe vorstellen, denn die Männchen gehen für die (flüchtige) Liebe ins Wasser. Einfach gesagt, ertrinken die Viecher in der Wasserpfütze am Grund der Falle.

Neben diesen Zählfallen erprobe das Pflanzenschutzamt auch solche, die der Bekämpfung dienten, sagt Jäckel. Dabei haben die Pflanzenschützer bei der menschlichen Balzökonomie abgekupfert. In fragwürdigen Tanzlokalen ist es üblich, die Weibchen durch Gratiseintritt und Begrüßungscocktails zu locken. Die paarungs- und zahlungswilligen Menschenmännchen surren dann schon hinterher, hoffen die Discobesitzer, und sie haben Recht.

Bei den Motten funktioniert das auch. Kastanienduftstoffe, so genannte Kairomone, locken in einem Fallentyp die Weibchen an, die auf saftigen Blattwuchs aus sind. Die Männchen gehen mit auf den Leim, weil sie auf Sex aus sind. Pflanzenschützerin Jäckel gibt offen zu: „Das Prinzip setzt auf den Schneeballeffekt.“

Neben den Kairomonfallen laboriert das Pflanzenschutzamt auch mit einem „Attract and Kill“-System. Die Mottenmänner verenden dabei auf einem pheromongetränkten Gel. „Die Systeme kommen aus den USA und Österreich, wir müssen sie auf verschiedene Naturschutzaspekte prüfen“, sagt Jäckel. Frühestens in vier Jahren könnten sie eingesetzt werden.

Wer der Motte das Glück nicht gönnt, darf daher auf mechanische Faktoren hoffen. Bleibt es den ganzen Sommer über kühl und regnerisch, hat es die Liebe schwer. Der Stoffwechsel der umeinander Werbenden verbraucht sich schneller, für Eier bleibt wenig Energie. Auf nassen Blättern legt es sich schlecht ab. Starke Regengüsse können lockende Motten gar von den Blättern waschen. Aber dies wünschen ihr wahrlich nur frustrierte Singles oder Naturschützer.