Die Scham bleibt vor der Klassentür

In einem Modellprojekt werden HauptschülerInnen zu LehrerInnen: Sie reden mit GrundschülerInnen über Liebe, Sexualität und Aids. Die trauen sich, den nur wenig Älteren auch doofe Fragen zu stellen. Zum Beispiel die, ob ein Tampon entjungfert

„Ficken“, „Titten“, „in den Puff gehen“ steht bei den Jungs häufig an der Wand

VON PLUTONIA PLARRE

Ihren Unterricht zum Thema Aids, Sexualität, Liebe und Freundschaft beginnen die beiden 16-jährigen Hauptschülerinnen Angelina und Sheila gerne mit einem Spiel. Sie hängen im Klassenraum ein Plakat mit einem Herzen an die Wand. In das sollen die Mädchen der 6. Grundschulklasse, sie sind zwischen 11 und 13 Jahre alt, ihre Assoziationen schreiben. Ausgehen, Eis essen, küssen, vertrauen, heiraten, Kinder kriegen, miteinander schlafen, so lauten die Antworten meist.

Ganz anders lesen sich die Formulierungen ihrer gleichaltrigen Klassenkameraden, die im Nachbarraum von männlichen Hauptschülern wie Eihan unterrichtet werden. „Ficken“, „Titten“, „in den Puff gehen“, „einen blasen“ steht dann öfters an der Wand.

Angelina, Sheila und Eihan gehören zu einer Gruppe von zehn Jugendlichen der 9. und 10. Klasse der Schöneberger Riesengebirgs-Oberschule, die als so genannte Peers in den Grundschulen von Schöneberg-Nord mit hohem Migrantenanteil Aufklärung in Sachen Verhütung und Safer Sex betreiben. Peer-Education heißt: Eine Gruppe ähnlicher sozialer Herkunft und ähnlichen Alters vermittelt Informationen an ähnlich zusammengesetzte Gruppen, um Hemmschwellen gar nicht erst aufkommen zu lassen.

„Wenn ihnen Hauptschüler gegenüberstehen, trauen sich Grundschüler, doofe Fragen zu stellen. Bei Erwachsenen schämen sie sich eher“, sagt die Gesundheitsstadträtin von Tempelhof-Schöneberg, Elisabeth Ziemer (Grüne). Sie hat das Projekt zusammen mit dem Quartiersmanagement Schöneberg-Nord auf die Beine gestellt. Den zehn TeilnehmerInnen des in Berlin einmaligen Modellprojekts wird Ziemer heute eine Urkunde als Dank überreichen.

Sechsmal sind die Peers inzwischen in Zweiergruppen, fein säuberlich nach Jungen und Mädchen getrennt, in die 6. Klassen von Schöneberger Grundschulen ausgeschwärmt und haben dort jeweils 45 Minuten Sexualkunde-Unterricht ohne Lehrer bestritten. Die Resonanz sei überwältigend, sagt der Sexualpädagoge Theo Gilbers, der die Gruppe zusammen mit der Psychologin Lucyna Wronska zwei Jahre lang ausgebildet hat. „Alle sagen: Bitte, kommt wieder!“

Ausgehend davon, dass die Schüler und Schülerinnen in der 6. Klasse längst von Eltern und Lehrern aufgeklärt sind, stehen bei dem Projekt Verhütung und Aids-Prävention im Vordergrund. Mitte der 80er- bis in die 90er-Jahre hinein habe es in den Schulen beinahe zu viele Veranstaltungen zu diesem Thema gegeben, sagt Gilbers.

Heute hingegen finde dazu kaum noch etwas statt. „Es geht uns um die Vermittlung von Basiswissen. Auf Nachfrage stellen sich die Peers aber auch allen anderen Themen.“ Damit werde gezeigt, dass man über Sex reden kann, ohne einen roten Kopf zu bekommen, so Gilbers. Auch wenn die Zeit für tiefer gehende Erörterungen in den Klassen zu kurz sei, werde das Thema somit immerhin angestoßen und zeige sich, wo die Schüler gezielte Beratung finden könnten.

Der volle Name des Projekts lautet „Peer Education im interkulturellen Kontext“. Man könnte auch einfacher sagen: Die Mehrzahl der zehn Peers kommt aus Familien mit Migrationshintergrund und trifft in den Grundschulen auf ebensolche Kinder. „Wir Ausländer sind schlecht aufgeklärt“, bringt es die 16-jährige Sheila, eine gebürtige Türkin, ohne Schnörkel auf den Punkt. Abgesehen von Küssen hätten die meisten Sechstklässlerinnen noch keine sexuellen Erfahrungen. „Viele sagen, dass sie damit bis zur Hochzeit warten wollen.“

Sheila sieht es nicht als ihre Aufgabe an, das zu bewerten. Entschieden wird sie aber, wenn sie zum zum wiederholten Male mit der Frage konfrontiert wird, ob man durch die Benutzung von Tampons entjungfert wird. „Das stimmt einfach nicht“, sagt sie. Auch dass es unterschiedliche sexuelle Praktiken wie Oralverkehr gebe, wussten viele nicht.

Anders ist es bei den Jungen der Altersstufe von 11 bis 13 Jahren. Auch die hätten in der Regel noch keine praktischen Erfahrungen in puncto Geschlechtsverkehr, sagt der Sozialpädagoge Gilbers. Dafür hätten sie zum Teil aber schon reichlich pornografische Erfahrungen in dem Sinne, dass sie sich entsprechende Bilder im Internet ansehen würden. Die Internetadressen würden auf den Schulhöfen getauscht wie früher die Mädchen Poesiealben.

Der Sexualpädagoge Gilbers stellt fest: „Sexualität ist überall präsent, aber sie ist kein Thema von verbalem Austausch und Reflexion.“ Und noch ein Phänomen hat er beobachtet: dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien in ihren Wünschen und ihrem Denken immer konservativer werden. „Die Mädchen wollen ganz früh ein Kind. Auch die Jungen sagen: Wenn ich Ehemann und Vater bin, habe ich einen Bereich, in dem ich wer bin.“ Diese Haltung sei der allgemeinen Perspektivlosigkeit und der desolaten Ausbildungs- und Arbeitsmarktlage geschuldet, vermutet der Sexualpädagoge.

Was die Peers Angelina, Sheila, Eihan und die anderen betrifft, hätten sich deren Lehrer vor ein paar Jahren nicht träumen lassen, was aus ihnen mal werden würde. Viele kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen, haben die Schule geschwänzt oder – wenn sie da waren – den Unterricht gestört. Einige sind früher sogar durch Drogen- und Gewaltdelikte der Polizei aufgefallen.

Die Arbeit in der Gruppe und die Mission haben ihnen Halt gegeben. Die Lehrer der Riesengebirgs-Schule schwärmen von der neu gewonnenen sozialen Kompetenz. „So gesehen“, sagt Gilbers, „ ist das Projekt auch eine Integrationsmaßnahme.“ Die Jugendlichen würden nur allzu gern weitermachen. Das Problem ist nur: Im Herbst läuft die Finanzierung aus.