„Schule verstärkt Ungleichheit“

Weil die frühe Auslese in den Schulen Kinder aus bildungsfernen Schichten schwer benachteiligt. Ute Erdsiek-Rave (SPD) ist die einzige Bildungsministerin Deutschlands, die von der dreigliedrigen Schule weg will. Mit Hilfe von Eltern und Gesellschaft will sie im Norden Gemeinschaftsschulen gründen

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Frau Erdsiek-Rave, Sie sind die einzige Sozialdemokratin, die für einen grundlegenden Wandel der Schule plädiert. Weg von der Zersplitterung, hin zu einer ‚Schule für alle‘. Was können Sie bildungspolitisch ausrichten gegen die schwarze Vormacht in der Republik?

Ute Erdsiek-Rave: So wichtig ist Politik doch gar nicht. Bei den Eltern, in den Kommunen, in der Wirtschaft bewegt sich viel. Da ist mehr Bereitschaft vorhanden, Schule weiterzuentwickeln, als in den Parteien. Die ideologischen Verhärtungen sind nicht mehr zeitgemäß.

Sie haben gut reden. Nur bei Bildung und Wissen gibt es überhaupt greifbare Unterschiede. Die Union glaubt an die Begabungslehre. Daher steht sie unbeweglich für das frühe Trennen der Schüler in Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien …

… die SPD Schleswig-Holsteins denkt da anders. Wir wollen eine Gemeinschaftsschule, in der die Kinder über die 6. Klasse hinaus zusammen lernen können.

Wieso ist Ihnen die Gemeinschaftsschule so wichtig?

Es gibt viele Argumente, etwa die demografische Entwicklung. Sie sorgt dafür, dass es gar nicht mehr genug Kinder für drei parallele Schulformen gibt. Am meisten stört mich aber die soziale Ungerechtigkeit in den hergebrachten Schulen. Wir kämpfen mit dem massiven Phänomen, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten von vornherein benachteiligt sind. Diese Ungerechtigkeit ist auf Dauer unerträglich. Unser Schulsystem verfestigt das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Gruppen, es verstärkt den Effekt sogar. Schule ist ein Ungleichheitsverstärker. Deswegen müssen wir vom Kindergarten bis in die Sekundarschulen alle Chance für Kinder nutzen. Das ist meine Überzeugung.

Aber nicht die der herrschenden Farbe. Woher kommt Ihr Optimismus, dass Gemeinschaftsschule eine Zukunft hat?

Seit den 70ern war die Diskussion über die Krise der Schule und das Interesse an ihrer Reform nicht mehr so groß wie heute. Selbst Konservative schreiben positiv über ein Schule, die nicht mehr durch Aussortieren und Sitzenbleiben geprägt ist. Einer der angesehensten Wirtschaftsforscher, Hans-Werner Sinn vom Münchener ifo-Institut, hat in Kiel öffentlich gesagt: ‚Die dreigliedrige Schule ist ein Anachronismus. Sie muss überwunden werden, weil sie zu viele Potenziale der Gesellschaft liegen lässt.‘ Auch viele Regionen, die den demografische Wandel bereits zu spüren bekommen, sehen das so. Dort wird über die unsinnige Zersplitterung der Schulformen ganz anders geredet – und dagegen gehandelt –, als dies vor zehn Jahren denkbar gewesen wäre.

Klingt gut. Nur sieht die politische Realität anders aus. Wie können Sie Ihre skandinavisch geprägte Schule da bundesweit voranbringen.

Unser Modell wird seinen Platz im Grundsatzprogramm finden.

Der SPD?

Ja.

Hm. Soll das Ausdruck von Hoffnung sein? Oder von Hoffnungslosigkeit?

Warum Hoffnungslosigkeit? Wenn man ein bisschen historisch denkt, dann weiß man, dass jede Phase immer auch eine Gegenbewegung nach sich zieht.

Können Sie gar nicht die Enttäuschung der Menschen verstehen? Die haben sich gefreut, dass die SPD endlich ein Gegenmodell zur Stino-Schule formuliert. Und dann gehen mit Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen genau jene Länder verloren, die ernsthaft daran interessiert waren.

Wir haben sicher Rückschläge erlebt. Aber mir ist schon wichtig, dass die Idee einer ‚Schule für alle‘ nicht verloren geht in meiner Partei aus lauter Angst vor mehr Widerstand. Vielleicht ist die Situation ja dazu geeignet, über Aufbruch, über Neues nachzudenken.

Werden Sie Ihre Idee auch in die Kultusministerkonferenz (KMK) einbringen?

Aktuell steht nichts an. Was wir in Schleswig-Holstein wollen, ist mit geltenden Abkommen machbar. Längerfristig sollten wir uns darauf verständigen, dass bestimmte Kompetenzen herauskommen, also eine Outputorientierung …

was heißt das?

Dass wir künftig nicht mehr festlegen, mit welchem Lehrplan, mit welchen Methoden und in welche Schulformen man zu Lernergebnissen kommt. Die Schulen werden viel mehr Freiheit haben, ihre Kompetenzen an die Kinder zu vermitteln. Dabei setzen wir auf Standards, Vergleichsarbeiten und zentrale Prüfungen.

Warum ist das wichtig?

Weil dies zu mehr Mobilität der Schüler und zu besserer Vergleichbarkeit der Leistungen führt. Und weil dann kein Land mehr die Gemeinschaftsschule, die Schüler gemeinsam bis zur Sekundarstufe II führt, in Frage stellen kann. Es gibt mehrere Länder, die mit den starren Vorgaben der KMK nichts mehr anfangen können.

Zurück in den Norden. Fühlen Sie sich eigentlich, pardon, wie eine „lame duck“?

Also. Nicht lahm. Und schon gar nicht „duck“!

Sie haben das beste Konzept in der Schublade – aber Sie dürfen es nicht umsetzen. Sie sind gefangen im Käfig der großen Koalition.

Bald wird man sehen: Es wird in den Schulen gewiss weniger passieren, als manche erhofft haben; aber es wird mehr geschehen, als andere gewollt haben.

Wie kommunizieren Sie mit Ihrem Ministerpräsidenten, Herrn Carstensen? Der will etwas ganz anderes als Sie.

Ich sehe keinen Anlass, weiter Wahlkampf zu machen. Ich halte mich an den Koalitionsvertrag.

In seiner Regierungserklärung sagte Herr Carstensen: „Das gegliederte Schulwesen bleibt grundsätzlich erhalten; es wird weiterentwickelt.“ Das verstehe ich nicht.

Es bedeutet: Die Struktur der Schule bleibt erhalten – aber es gibt im bestehenden System Veränderungen. Am wichtigsten sind mir die Anreize für Schulen und Lehrer, die Schüler individuell zu fördern. Wir werden zudem das Rückstufen in andere Schulen abschaffen und das Sitzenbleiben stark einschränken. Das ist ziemlich sensationell.

Klingt sehr spannend, streite ich gar nicht ab. Nur scheint mir das darauf hinauszulaufen: Es bleibt alles beim Alten – und die Bildungsministerin ist für die wenigen Orte zuständig, wo Gemeinschaftsschulen entstehen.

So ist das nicht zu verstehen.

Sondern?

Wie das gegliederte Schulsystem weiterentwickelt wird, habe ich beschrieben. Dass daneben Gemeinschaftsschulen entstehen, ist der zweite wichtige Punkt.

Ein Nebeneinander von Gymnasien und Gemeinschaftsschulen, mit Verlaub, ist doch eine Katastrophe. Das Gymnasium wird wie ein Magnet die besten Schüler aus der daneben liegenden Gemeinschaftsschule herausziehen. Wie in den NRW-Gesamtschulen, furchtbar.

Einspruch! Die Gesamtschule war fast immer neben den drei anderen Schulen an einem Ort – denn es sollte alles bestehen bleiben. Die Gemeinschaftsschule aber entsteht aus den Schulformen vor Ort, aus den Schulen, die es gibt. Die wird nicht daneben gesetzt. Sondern sie nimmt die anderen Schulformen auf.

Mit wie vielen Gemeinschaftsschulen rechnen Sie? Gibt es eine Obergrenze?

Nein. Die Skala ist nach oben offen. Wir würden vielleicht Schwierigkeiten mit unseren Förderfonds bekommen.

Was mache ich als Schulleiter, um eine Gemeinschaftsschule zu kriegen?

Wenn ich Rektorin wäre, würde ich für die Idee mit den Vorteilen des längeren Lernens werben: kein frühes Aussortieren, anderes Lernen, individuelle Förderung. Die Öffentlichkeit, übrigens auch in CDU-regierten Kommunen, ist bereit dafür.

Aber Sie geben den Schulen auch Material an die Hand?

Natürlich. Wir beraten alle, die Interesse haben.

Welche Vorschriften machen Sie den Gemeinschaftsschulen?

Wir wollen so wenig wie möglich vorschreiben.

Was mich besonders interessiert: Verfahren Sie weiter nach dem Prinzip der Gesamtschulen, die Schüler in den Kernfächern zu trennen?

Die Schulen müssen nicht so arbeiten wie Gesamtschulen. Wir werden an einigen Stellen die KMK-Vorgaben weiter öffnen. Schulen sollen in Zukunft ergebnisorientiert arbeiten.

Muss man nicht mal deutlich machen, dass Gemeinschaftsschulen etwas ganz anderes sein müssen als Gesamtschulen? Dass also in den Kernfächern nicht mehr nach Leistungsgruppen getrennt wird. Die Gesamtschulen waren in den Pisawerten doch so grauenvoll, weil sie ihre Schüler ab der Siebten in verschiedene Gruppen separiert haben.

Ich finde, das ist eine schiefe Darstellung. Und nicht der Grund, warum manche deutsche Gesamtschulen zu schlechten Ergebnissen kommen.

Woran liegt es dann?

Weil sie in Konkurrenz zu Gymnasien gestanden haben.

Werden Sie das Ausleseprinzip, das auch Gesamtschulen prägt, also nicht abschaffen?

Das werde ich mit Sicherheit nicht von heute auf morgen abschaffen. Wir haben vorher nämlich noch ein paar andere Fragen zu beantworten: Wir müssen die Lehrer vorbereiten. Unsere Lehrkräfte haben es bislang nicht gelernt, wie man gemischte Gruppen unterrichtet.

Grundschullehrer schon.

Aber Lehrer der Sekundarstufe I können das nicht unbedingt. Die sind anders ausgebildet. Die gehen davon aus, dass sie zum Beispiel eine homogene Gymnasialklasse vor sich haben. Die neue Schulform wird es künftig mit sich bringen, dass alle Begabungen in einer Klasse sitzen. Dafür müssen sich die LehrerInnen erst mal intensiv fortbilden, wenn eine Gemeinschaftsschule entsteht. Das ist mir viel wichtiger, als die KMK umzustimmen.

Das müssen Sie aber. Und Sie müssen es den Menschen sagen, dass die deutsche Gesamtschule gar keine war, weil sie im Kleinen den dreigliedrigen Unsinn nachgemacht hat. Das ist der Grund für ihr Scheitern.

Ich lasse die Gesamtschule nicht schlecht reden, das wäre ungerecht. Wenn ich gute Gesamtschulen anschaue, dann haben die trotz des Differenzierens Erfolge – weil sie mehr Schülern den Weg zum Abitur offen halten.

Aber Sie können doch Ihrer Gemeinschaftsschule nicht den Hauptvorteil nehmen.

Ich will der doch nichts nehmen, sondern etwas geben.

Aber Sie verbieten ihr, aufs äußere Differenzieren einfach zu verzichten. Sondern statt dessen die SchülerInnen, je nach Fach und Neigungen, immer wieder neu zu gruppieren – in der Klasse .

Nein, es wird eben keinen Zwang geben, in bestimmten Fächern zu differenzieren oder nicht. Wenn die Lehrer sagen, wir sind nicht so weit, dann sollen die das selbst entscheiden.

Das heißt, wenn sie nicht differenzieren wollen …

… dann sollen sie ihre Schüler gemeinsam unterrichten.

Sie erlauben das?

Ja.

Offiziell?

Ja.

Und was sagt der bayerische Kultusminister dazu?

Der wird gar nichts machen. Das kann ich immer als Ausnahme von den Regeln der KMK definieren. Wie ja andere Ausnahmen auch gemacht werden.

Sie werden die Ausnahmeministerin. Die Ministerin für die gute Schule auf kleinen Inseln!

Ich kann verstehen, dass Sie Probleme mit der KMK haben. Nur ist es nicht mein Impetus, die Kultusminister zu missionieren. Ich will Schulen schaffen, die auch Kindern aus benachteiligten Schichten beste Chancen bieten. Das ist mein Ziel.