Posen des Verzichts

„Spiegel“-Chef Stefan Aust und „Frontal 21“-Mann Claus Richter haben eine populistische ZDF-Doku über Deutschland gedreht (Teil 1: um 22.45 Uhr)

VON CHRISTIAN SEMLER

Das gegenwärtige sozialpolitische Klima begünstigt Generalrevisionen. Hatte Angela Merkel ihre Sozialabbau-Pläne noch verschämt als „neue soziale Marktwirtschaft“ präsentiert, so geht es jetzt in der Kahlschlagpublizistik der Rechten ums Ganze, ums „Soziale“ selbst. Die Autoren Stefan Aust und Claus Richter haben sich in ihrem Dreiteiler „Fall Deutschland“ vorgenommen, die Wurzeln der gegenwärtigen deutschen Misere in den Fehlentwicklungen von vierzig Jahren deutscher Nachkriegsgeschichte bloßzulegen. Herausgekommen ist allerdings eine platte, historische Fakten wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen souverän negierende Dokumentation, der die marktradikale Überzeugung auf die Stirn geschrieben steht.

Die Kernthese von Aust und Richter lautet: An Kreuzwegen der deutschen Nachkriegsgeschichte hätten die deutschen Politiker sehr wohl wissen können, dass die sozialpolitischen „Wohltaten“, die sie überm Volk ausgossen, auf Dauer nicht finanzierbar waren. Um der Wählerstimmen, also des Machterhalts willen hätten sie sie dennoch durchgesetzt. Aust und Richter spannen den Bogen von der Rentenreform von 1957 (mit der dynamisierten Rente als Kernstück) über die sozialpolitischen Gesetze der sozialliberalen Koalition der 70er-Jahre bis hin zur Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion des Jahres 1990. Zu Zeugen der angeblichen Realitätsverweigerung der politischen Klasse rufen die Autoren im ersten (der Presse vorab vorgeführten) Teil der Doku das bekannte Personal der Umkehr- und Austeritätsprediger auf.

Aust und Richter operieren mit einer Vorstellung des ökonomischen „Fehlers“, der den sachverständigen Zeitgenossen jeweils offenbar gewesen sei. Dabei lassen sie vollständig außer Acht, dass ein Projekt wie die Rentenreform von 1957 in eine politische Orientierung eingebettet war, die die Sozial- und die Systemintegration großer Bevölkerungsgruppen zum Ziel hatte. Natürlich hatte es Konrad Adenauer 1957 auch auf die absolute Mehrheit abgesehen. Aber darüber hinaus ging es darum, die nackte Armut von Millionen Rentenempfängern zu mildern.

Aust und Richter vergessen in ihrer erbaulichen Geschichte vom kargen Leben und vom Wiederaufstieg kraft harter Arbeit (und lange eingefrorenen Löhnen) vollkommen, dass die Währungsreform samt den Jahren danach zu einer krassen Ungleichheit bei der Verteilung der Kriegslasten geführt hatte. Unglaublich, aber wahr: Dagegen wurde damals gekämpft, und keineswegs verhielt es sich so, dass die ArbeiterInnen sich bei jedem weiteren Groschen Lohn freuten, wie Aust und Richter in ihrer integrierten Familiensaga von der bescheidenen, hart arbeitenden VW-Familie glaubhaft machen wollen.

Die kurzen Ausschnitte, die das ZDF vorab vom zweiten und dritten Teil der Doku zeigte, erlauben immerhin das Urteil, dass auch hier ökonomische Entscheidungen isoliert von ihrem politischen wie gesellschaftlichen Zusammenhang als „Fehler“ gezeigt werden. War die Währungs- und Wirtschaftsunion des Jahres 1990 so ein Fehler? Wie hätte die Alternative ausgesehen? Erneuter Mauerbau, um eine massive Emigration nach Westen zu verhindern? Natürlich wäre es besser gewesen, die Wahrheit über die zukünftigen Lasten der Einheit auszusprechen, an den Lasten selbst hätte das wenig geändert. An den konkreten Formen des Vereinigungsprozesses, der Konstruktion der Treuhand etwa, hätte Kritik anzusetzen. Nicht aber am Transfer der Sozialleistungen, ohne die die Einheit überhaupt nicht vorstellbar gewesen wäre.

Aust und Richter praktizieren einen billigen Populismus gegenüber der politischen Klasse, wo eine sorgfältige Analyse der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen angezeigt gewesen wäre. Sie trennen systematisch „die Ökonomie“ von der Sozialpolitik. Sie posieren als Ideologen des Verzichts – aus reiner Überzeugung und nach bestem Wissen und Gewissen, wie es sich für Intellektuelle gehört.

Teil 2: Do., um 22.15 UhrTeil 3: So., um 21.45 Uhr