berliner szenen
: Wie hört man mit Warten auf?

Der Gelenkbus umschifft das Ende der Karl-Marx-Straße. Endhaltestelle Hermannplatz. Ich steige aus. Es regnet in Strömen. Eilig überquere ich die leere Straße, laufe auf die andere Seite des Platzes. Unter der Überdachung des geschlossenen Kaufhauses hoffe ich trocken zu bleiben. Mit dem Wunsch bin ich nicht allein. Eine bärtige Gestalt schält sich aus ihrem Schlafsack und einem Sammelsurium von Decken. Sie schaut verwundert zu mir hoch, trinkt gierig aus einem Karton, der mit dunkelroten Trauben bebildert ist, bietet auch mir einen Schluck an, den ich kopfschüttelnd ablehne, und verschwindet wieder in seiner Höhle.

Ich bin früh genug aufgebrochen. Zum Kino sind es keine zehn Minuten zu Fuß. Ich kann in Ruhe das Ende des Regens abwarten. Den ganzen Tag über hat es kurze Schauer gegeben. Nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit. Der Wind nimmt zu. Einzelne heftige Böen lassen Laub und Müll durch die Luft segeln. Ich beginne zu frieren.

An der roten Ampel stehen nur wenige Autos. Aus einem dröhnt laute Hiphop-Musik. Vier junge Männer sitzen darin, sie lachen. Ihnen macht die nasskalte Wetterlage natürlich nichts aus. Ob sie mich mitnehmen würden? Die Zeit wird langsam knapp. Vielleicht sollte ich sie fragen. Die Spätvorstellung könnte sonst ohne mich anfangen. Das wäre schrecklich. Ein Film ohne Anfang nimmt kein gutes Ende. Ich hätte gleich zum Kino laufen sollen.

Es war dumm von mir zu warten. Wer mit dem Warten anfängt, kann nicht wieder aufhören. Niemand will umsonst warten. Vielleicht gilt das auch für den Menschen im Schlafsack, der noch einen großen Schluck aus seinem Karton braucht. Wieder lehne ich dankend ab. Auf der anderen Seite der Kreuzung Hasenheide sieht der Regen weniger schlimm aus. Ich mache mich auf den Weg. Henning Brüns