Kostenfaktor Pflege

Alt zu werden hat heute weniger mit Würde als vielmehr mit Geld zu tun. Sowohl Sozialsysteme als auch Kinder sind überlastet

VON JÖRG SCHALLENBERG

Auf dem Schreibtisch von Michael Baczko stapeln sich die Akten. „Rund hundert neue Fälle habe ich im letzten halben Jahr übernommen“, sagt der Erlanger Rechtsanwalt und Experte für Sozialrecht, „der Druck der Behörden wird immer größer.“ Denn bei all diesen Mandanten dreht es sich im Kern um das gleiche Problem: Vater, Mutter oder beide Eltern werden im Pflegeheim betreut, aber Rente und Pflegeversicherung reichen nicht aus, um die Heimkosten zu decken. In dieser Situation müssen die Sozialämter einspringen – und die versuchen zunehmend, ihre Ausgaben den Kindern der Pflegebedürftigen aufzubürden.

So gesehen war der gestern vom Bundesverfassungsgericht verhandelte Fall zwar im Detail sehr ungewöhnlich, dürfte aber in seiner grundsätzlichen Problematik bald zur Normalität in Deutschland zählen. Michael Baczko: „Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab. Mutter ist im Heim, und die Behörde fordert Auskunft von den Kindern. Das Problem ist, dass viele der Betroffenen nur unvollständig antworten – weil sie bei der Angabe ihrer Vermögensverhältnisse etwa gar nicht wissen, welche Ausgaben sie für sich selbst geltend machen können.“

Denn die Rechtsprechung, so erläutert der Anwalt, fordert zwar einerseits, dass Kinder sich grundsätzlich an den Heimkosten ihrer Eltern beteiligen müssen – aber nur, „wenn damit der eigene Lebensstandard nicht eingeschränkt werden muss“. Was laut Baczko konkret bedeutet, „dass Rücklagen für den Urlaub da ebenso mit eingerechnet werden müssen wie Beiträge für das Fitnessstudio oder der Musikunterricht“. Für ebenso unzumutbar hält es der Sozialexperte, „wenn ein Klient von mir, ein Nebenerwerbslandwirt, vom Sozialamt aufgefordert wird, seine Landwirtschaft zu verkaufen, damit der Erlös für Pflegekosten verwendet werden kann – mit der Begründung, dass er von seinem anderen Beruf ja schließlich auch leben könne“.

Allen Betroffenen, die vom Sozialamt bereits einen Bescheid erhalten haben, durch den sie für den Unterhalt ihrer pflegebedürftigen Eltern herangezogen werden, rät Anwalt Baczko Widerspruch einzulegen: „Nach meiner Erfahrung fordern die Ämter fast immer zu viel. Ich habe bis jetzt in fast jedem Fall einen Verzicht oder eine Reduzierung der Kosten erreicht.“

Die Mandanten werden ihm auch in den kommenden Jahren nicht ausgehen. So teilte das Statistische Bundesamt im Frühjahr mit, dass die Zahl der Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf 323.000 angewachsen ist – mit steigender Tendenz. Etwa 200.000 von ihnen sind in Heimen untergebracht, die anderen werden zu Hause versorgt. Parallel dazu stiegen die Pflegeausgaben der für die Sozialhilfe zuständigen Kommunen auf gut 3 Milliarden Euro – von denen der Löwenanteil, fast 2,5 Milliarden Euro, auf die weitaus kostenträchtigere Versorgung im Heim entfiel.

Diese Zahlen verraten das grundlegendere Problem: Das 1994 von Norbert Blüm eingeführte Prinzip der Pflegeversicherung geht nicht länger auf – denn die sollte dafür sorgen, dass die Pflege nicht mehr massenhaft über die Sozialhilfe finanziert wird. Unmittelbar vor Einführung der Versicherung 1994 waren über 573.000 Menschen auf diese Unterstützung angewiesen. Die Ausgaben der Städte und Gemeinde summierten sich auf knapp 9 Milliarden Euro im Jahr. Bis 1998 sank die Zahl der pflegebedürftigen Sozialhilfeempfänger auf 289.000, die Kosten pendelten sich weit unter 3 Milliarden Euro ein.

Doch mittlerweile ist klar, dass die Pflegeversicherung auf der Basis falscher Prognosen geplant wurde. So erwartete Blüm etwa, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2015 auf 1,9 Millionen ansteigen würde – tatsächlich wurde dieses Niveau bereits 2002 erreicht. Aufgrund solche Fehlkalkulationen reichen die Beiträge zur Versicherung aber immer weniger, um gemeinsam mit der Rente des Bedürftigen die tatsächlichen Pflegekosten zu decken. Denn die betragen im Heim mittlerweile bis zu 4.000 Euro pro Monat. Und die Experten in den zuständigen Ministerien gehen inzwischen davon aus, dass die Zahl der Pflegefälle allein in den kommenden fünf Jahren um knapp 400.000 auf rund 2,4 Millionen ansteigt. Angesichts der Verschiebung der Alterspyramide und der Erkenntnis, dass laut Statistik jeder Dritte der Über-80-Jährigen der Pflege bedarf, dürften die Zahlen in den kommenden Jahrzehnten weiter nach oben gehen. Die seit langem geplante Reform der Pflegegesetze dürfte sich angesichts der wahrscheinlichen Neuwahlen im Herbst erneut verschieben.