Spaltung stärkt

Nur eine echte linke Konkurrenz kann den Sozialdemokraten zu neuer Kraft verhelfen. Dass das Personal dafür aus den eigenen Reihen käme, sollte die SPD nicht grämen

Die SPD-Linke ist nicht mal zu einem ordentlichen Putsch gegen die eigene Führung in der LageMan sollte eine Spaltung der SPD gelassener sehen

In ganz Europa stecken die linken Parteien in einer paradoxen Lage, die einem nahezu ausweglosen Dilemma gleichkommt: Wenn sie sich dem Druck des Neoliberalismus ganz anpassen, verlieren sie die Macht oder gehen ganz unter; wenn sie sich dem Druck nur entgegenstemmen, verlieren sie ebenfalls die Macht oder kommen gar nicht erst an diese heran.

Untersucht man die Lage in den einzelnen Ländern, erkennt man jedoch, dass das Dilemma nicht überall gleich ausweglos ist. In Italien wird der aus der Kommunistischen Partei Italiens hervorgegangenen und im linksliberalen Bündnis L’Ulivo integrierten Partei Democratici di Sinistra (DS) üblicherweise die Schelle „exkommunistisch“ umgehängt, obwohl diese Partei mit der alten KP nichts mehr zu tun hat. Sie konnte sich erneuern, muss jedoch auch darauf achten, ihren linken Charakter nicht völlig aufzugeben, denn sie steht von links unter dem Druck der Rifondazione Comunista (RC). Diese beerbt sofort Teile der DS, wenn diese Partei zu weit nach rechts rückt. Sie erhielt deshalb auch schon einmal 35 Sitze im Parlament. Die RC vereinigt wie die deutsche PDS in ihrer Führungsriege nur „gewendete“ Kommunisten. Deren faktische Politik hat so wenig mit den spätstalinistischen Praktiken zu tun wie die Politik der PDS mit jener der ehemaligen SED. Die permanente Konkurrenz zwischen DS und RC belebt beide Parteien, während die PDS allenfalls in den neuen Bundesländern eine solche Rolle spielt. Die linken Parteien in Italien bleiben in Bewegung und dümpeln nicht vor sich hin.

Etwas anders liegen die Dinge in Frankreich. Der Parti Socialiste (PS) hat nur etwa doppelt so viele Mitglieder wie die deutschen Grünen, ist aber in der Regel zweitstärkste Partei des Landes. Die Partei besteht aus fünf Fraktionen, die „Familien“ genannt werden, und sich um Personen gruppieren: François Hollande, Martine Aubry, Dominique Strauss-Kahn, Laurent Fabius und Arnaud Montebourg. Bei der jüngsten Abstimmung über die EU-Verfassung plädierte zwar eine Mehrheit der Parteimitglieder für ein Ja. Aber die herrschenden Familienclans waren total zerstritten: die drei ersten waren für, die beiden letzten gegen die Verfassung. Faktisch war die Partei gespalten in einen eher linksliberalen und einen linken Block. Ab sofort wird es im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2007 ein munteres Ringen um programmatische Grundlagen und Personen geben. Um so mehr, als die Sozialisten unter dem Druck der KPF und zwei trotzkistischen Gruppierungen stehen. Auch hier herrscht also keine Stagnation oder gar Resignation. Was zeigen die beiden Beispiele: Linke Parteien bleiben nur eine wirkliche politische Alternative und erneuerungsfähig, wenn sie mit anderen linken Parteien in Konkurrenz um Programme und Wähleranteile ringen.

Genau das fehlt in England und Deutschland. In beiden Ländern haben die Labour Party beziehungsweise die SPD keine ernsthafte linke Konkurrenz. Und die Parteien sind von ihren Führungsfiguren Tony Blair, Franz Müntefering und Gerhard Schröder mittlerweile so verformt, dass alternative Politik und programmatische Erneuerung aussichtslos geworden sind. Mit der „neuen Mitte“ sowie „Hartz I–IV“ und der „Agenda 2010“ hat sich die SPD der liberal-konservativen CDU/CSU bis zur Ununterscheidbarkeit angenähert.

Der politische Weg der Sozialdemokratie belegt wenigstens zweierlei. Erstens: Wenn Schröder und Müntefering im Alleingang mit ein paar Beratern an allen Gremien vorbei Neuwahlen durchsetzen, sollte man von innerparteilicher Demokratie ebenso wenig reden wie von Selbstreinigungskräften der Partei. Diese scheint nicht einmal mehr fähig zu einem ordentlichen Putsch gegen die autoritäre Führungsriege. Zweitens: Jene grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, die unumgänglich geworden sind, lassen sich mit einer Partei wie der Schröder-SPD nicht machen.

Wenn in der SPD von Parteispaltung die Rede ist, wird reflexhaft das Ende der Weimarer Republik beschworen, für das die Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten, Kommunisten und ein paar linke Splittergruppen verantwortlich gemacht wird. Mit diesem holzschnittartigen Argument wird jede Debatte abgewürgt. „Spaltung hilft den Rechten und Konservativen. Basta!“ Man sollte die Dinge deshalb etwas gelassener sehen. Faktisch hat sich die Spaltung längst vollzogen. Mit jedem Schritt zur „neuen Mitte“ trennte sich Schröder und seine SPD von traditionell sozialdemokratischen Milieus, die fortan meistens gar nicht mehr wählten. Natürlich sind nicht alle Nichtwähler ehemalige Wähler der SPD, aber bei den NRW-Wahlen stellten die 37 Prozent Nichtwähler die zweitstärkste „Partei“ und übertrafen die SPD um fast zehn Prozent.

Wer Veränderungen will oder wenigstens die Neugründung einer substanziellen Opposition, die Chancen hat auf 20 Prozent Wähleranteil, der kommt nicht darum herum, Nichtwähler zu mobilisieren und jene Teile aus der SPD herauszulösen, die an solchen Veränderungen ein Interesse haben. Diejenigen, die sich als linke Sozialdemokraten bezeichnen, sind ein Indiz dafür, dass es in der SPD noch Leute gibt, die wirkliche Strukturveränderungen wollen.

Es geht um neue Konzepte und Alternativen zur neoliberalen Politik und ihren Angeboten. Die Frage lautet in ihrer schlichtesten Formulierung: Wie wollen wir leben und zusammenleben – heute, morgen und übermorgen? Linke Sozialdemokraten sollten allein aus Selbstachtung den Bruch mit ihrer Partei riskieren, und statt sich ständig demütigen zu lassen, am Projekt einer Neuformulierung politischer Alternativen mitarbeiten. Dabei ginge es weder darum, utopische Ziele möglichst bunt auszumalen, noch darum, weit ausgreifende Theorien zu entwerfen. Vielmehr sollten elementare Fragen, wie wir leben und zusammenleben wollen, zu politischen Konzepten mit mittlerer Reichweite gebündelt werden.

Was bedeutet Rücksicht auf die Begrenztheit natürlicher Ressourcen für unseren Rohstoff- und Energieverbrauch? Was bedeutet angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der hilflosen neoliberalen Beschwörung von „Wachstum, Wachstum!“, „Arbeitsplätze, Arbeitsplätze!“ eine Um- und Neuverteilung der vorhandenen Arbeit, da Wachstum und Vollbeschäftigung nicht nur keine Ziele, sondern Albträume geworden sind? Welche Alternativen gibt es zur herkömmlichen und nur sektoral erneuerten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung? Wie wird Chancengleichheit im Bildungswesen hergestellt? Wie sieht eine grundlegende Neu- und Umverteilung von Steuerlasten aus, und wie können Sozialsysteme so von der Lohnarbeit entkoppelt werden, dass sie stabil und gleichzeitig gerecht sind? Damit sind skizzenhaft nur ein paar elementare und ältere Fragen formuliert, auf die Schröder-SPD wie Grüne nicht nur keine Antworten haben, sondern die sie gar nicht mehr stellen.

RUDOLF WALTHER