Schnupperkurs in der Moderzelle

Ein Gefängnis in der russischen Provinz bietet Neugierigen an, gegen Bezahlung das Knastleben kennen zu lernen. Mit den Einnahmen aus dem Projekt „kommerzieller Knastbruder“ sollen die katastrophalen Haftbedingungen verbessert werden

AUS MOSKAUKLAUS-HELGE DONATH

„Kommerzieller Knastbruder“ heißt ein Projekt, das sich die Strafvollzugsbehörde im 300 Kilometer nördlich von Moskau gelegenen Jaroslawl ausgedacht hat. In den Zellen des 200 Jahre alten Untersuchungsgefängnisses (Ciso) Korowniki bieten Vollzugsbeamte ein mehrtägiges Züchtigungsprogramm für all jene an, die bisher noch nicht mit der Strafjustiz in Kontakt gekommen sind. Die Maßnahmen reichen von Desinfizierung, unsachter Leibesvisitation bis zu Dunkelhaft in einer modrigen Betonzelle. Dies aber nur bei Zuzahlung. Die umtriebigen Unternehmer hoffen, mit den Einnahmen die katastrophalen Haftbedingungen der Gefangenen ein wenig verbessern zu können.

Einen „kommerziellen“ Häftling gibt es in Russland schon. Vergangene Woche wurde der Milliardär Michail Chodorkowski wegen Betruges und Steuerhinterziehung zu neun Jahren „normaler Lagerhaft“ verurteilt. Direktoren von Strafkolonien, heißt es gerüchteweise, sollen sich bereits um den prominenten Häftling bemühen. Vielleicht lässt er eine neue Sporthalle oder Duschräume bauen.

763.000 Straffällige sind in Russland zurzeit auf 195 Gefängnisse und 748 Lager verteilt. Auf 100.000 Einwohner kommen 760 Sträflinge. In Europa sitzen dagegen in der Regel nur zwischen 20 bis 100 Täter hinter Schloss und Riegel. Dabei begehen die Russen nicht mehr Straftaten als Angehörige anderer Völker. Der Grund: Russlands Justiz ist unerbittlich, die Richter kennen keine Gnade. Für gleiche Delikte erhalten russische Täter vier- bis fünfmal höhere Strafen als etwa in Europa. Selbst Hühnerdiebe in der Provinz verschwinden jahrelang hinter Gittern. Jeder vierte männliche Bürger gelangt im Laufe seines Lebens einmal in die Fänge des Strafvollzugs. Die Justiz ist eine gewaltige Industrie, die sich durch künstliche Erfolgsquoten am Leben erhält. Wer einmal in ihre Mühlen gerät, kommt nur mit großer Mühe wieder heraus. Resozialisation sieht der Strafvollzug nur auf dem Papier vor.

Zurzeit warten 150.000 Personen in Untersuchungsgefängnissen auf den Prozessbeginn, was sich Jahre hinziehen kann. Sie sitzen drei- bis viermal so lange in U-Haft wie Straftäter im Westen. Auch die Lebensumstände sind nicht vergleichbar. Zwar hat Moskau sich verpflichtet, die Haftbedingungen internationalen Standards anzupassen. Nach Angaben des Justizministeriums verfügt ein russischer U-Häftling über die international üblichen drei bis vier Quadratmeter Bewegungsfreiheit in der Zelle. Einige „Euro-Cisos“ sind auch eingerichtet worden. Mit Sitzecke, Wasserspülung und einem Bett für jeden Gefangenen erinnern sie an die spartanische Einrichtung von Kolchos-Wohnheimen auf dem Lande.

In der Provinz müssen sich Gefangene weiter um einen Schlafplatz streiten. Für eine Nacht in einem Zweierbett, das schichtweise benutzt wird, muss ein Häftling in Perm im Ural 20 Rubel berappen. Bettwäsche kostet extra. Wer das nicht zahlen könne, schlafe auf dem Boden, berichtet die Zeitschrift Wlast. Alle Gefangenen litten an Hautausschlag und Krätze und sähen aus wie Nilpferde: graue, faltige Haut, die mit Blut- und Eiterkrusten übersät sei.

„In einer Zelle für zwölf waren bis zu vierzig Leute untergebracht“, erzählt Grigori Pasko. Zwei Jahre saß der Umwelt-Journalist in U-Haft, bevor er 2001 wegen Geheimnisverrats zu Lagerhaft in einer Strafkolonie verschärften Regimes in Ussiriisk im Fernen Osten verurteilt wurde. Pasko hatte über die illegale Verklappung radioaktiven Materials der russischen Flotte berichtet. „In den Zellen war es stickig und stank erbärmlich. Immer herrschte Wassermangel.“

In den letzten zehn Jahren habe sich aber einiges verbessert, meint Pasko. Wo heute 150.000 Gefangene sitzen, waren im Rekordjahr 1996 noch doppelt so viele untergebracht. Die Ansteckung mit Tuberkulose und Aids nahm damals epidemische Ausmaße an. „Ärzte können nichts tun“, sagt Pasko, „ihnen fehlen die Mittel.“ Nur Schmerztabletten und Verbände habe es gegeben. Zähne würden nicht behandelt, sondern gezogen. Nach drei Jahren Kälte und schlechter Ernährung sei jeder Gefangene chronisch krank.

Letztes Jahr traten „Sekis“ – so das russische Kürzel für Häftlinge – in Tscheljabinsk und Irkutsk in den Hungerstreik. Sogar der Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin schaltete sich ein. Was ans Tageslicht kam, war erschütternd. Das Wachpersonal zwang die Insassen, verdorbene Lebensmittel zu essen, sich in der Kälte auszuziehen, und hetzte wegen geringer Verstöße Hunde auf sie. Prügelstrafe mit Holzlatten gehörte zum Alltag.

„Nach wie vor wird das Volk wie Vieh behandelt, weil man Angst vor ihm hat“, sagt Pasko. In seiner Strafkolonie seien die meisten „ganz normale“ Menschen gewesen, sie saßen wegen Diebstahls ein, einige auch wegen Mordes. Der Direktor hatte ihm bei Haftantritt aufgeklärt: „Ich hab persönlich nichts gegen dich, wenn ich aber den Befehl erhalte, dich umzubringen, mach ich das“, soll der ehemalige kommunistische Politoffizier gesagt haben.

Paskos Haft verlief glimpflich. Zwölf Stunden arbeitete er tagsüber als Tischler, danach bereitete er sich auf eine Jus-Prüfung vor. Das „verschärfte“ Straflager, meint er heute, sei ein Segen gewesen. Dort säßen nur „Wiederholungstäter“, und jeder kenne die Spielregeln. In den „normalen“ Lagern für Ersttäter, das Chodorkowski blühe, müssten Hierarchie und Regeln erst schmerzhaft erlernt werden.