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Nachts im Theater

Bei „Insomnia“ des norwegischen Regisseurs Heiki Riipinen verbringen die Zuschauenden sechs Stunden gemeinsam im Berliner Ensemble

Von Verena Harzer

Viel könnte heute Nacht passieren, kündigt der norwegische Regisseur Heiki Riipinen zu Beginn seiner Inszenierung „Insomnia“ an. Etwa 50 Zuschauer sitzen im Foyer des Werkraums des Berliner Ensembles. Die Anwesenden könnten sich verlieben oder entlieben, einschlafen, am Handy daddeln oder das Theater verlassen.

Das sei alles in Ordnung. Denn man würde jetzt ja ganze sechs Stunden gemeinsam verbringen. Und das zu einer ungewöhnlichen Zeit: Es ist 22 Uhr. Wenn die Aufführung endet, wird es 4 Uhr morgens sein. In einer Reise durch die Nacht wollen Riipinen und sein Team gemeinsam mit dem Publikum deren Mythen und Träume erkunden – so ist es jedenfalls angekündigt.

Schlaflosigkeit – und überhaupt, die Nacht. Dieses immer wiederkehrende dunkle Wurmloch zwischen Abendessen und Frühstück. Was für ein großes Thema. Auf jeden Fall für jeden, der schon mal unter Schlafstörungen gelitten hat. Der die Gnadenlosigkeit des sich nicht einstellen wollenden Schlafs und das Ausgeliefertsein an eine nicht ansprechbare Welt kennt.

Was für eine geniale Idee, das in einer Theateraufführung zu verhandeln. Und zwar radikal: als gemeinsam durchlebte Zeit. Was für ein Jammer, dass die Aufführung dem großen Thema dann doch nicht gerecht wird.

Dabei beginnt der im Rahmen des BE-Nachwuchsförderprogramms „WORX“ entstandene Abend durchaus verheißungsvoll. Während Riipinen das Publikum im Foyer begrüßt, trägt er ein ärmelfreies Fellkostüm. Wenn er läuft, wackelt hinten ein kleines Puschelschwänzchen hin und her. Eine rundherum sympathische Erscheinung. Er sei kein Bär, sondern ein Twink, erzählt er dem Publikum. Wer nicht wisse, was das sei, könne das ja jetzt googeln.

Dann bittet er das Publikum, sich einzuordnen: Schlechte Schläfer direkt neben den Eingang, gute ans andere Ende des Raums. Alle anderen irgendwo dazwischen. Das Publikum folgt willig. Es ist spürbar bereit, sich auf diesen experimentellen Trip durch die Nacht einzulassen.

Nächste gute Idee: die beiden Schlafpole von zwei archetypischen Figuren des europäischen Theaterkanons verkörpern zu lassen. Auf der Seite der Schlaflosen tritt auf: Goethes Iphigenie auf Tauris (Pauline Knof), der ideale Mensch, mit den Gedanken immer bei den anderen – und deshalb leider unfähig, zur Ruhe zu kommen. Auf der anderen Seite: Auftritt von Molières Don Juan (Paul Grill), der Egomane, der keine Verantwortung kennt. Schlafen? Für ihn gar kein Problem.

Hobbithöhle mit Flokati

Schließlich geht es in den Werkraum des Berliner Ensembles. Dort ist ein kuscheliges Hobbit-Land aufgebaut. Auf grünen Flokati-Hügeln und Stein-Sitzsäcken können die Zuschauer es sich gemütlich machen. In einer Ecke befindet sich eine zeltartige Troll-Höhle, an der Bühnendecke ziehen auf einem großen Bildschirm weiße Wolken über einen blauen Himmel. Natürlich gibt es auch Trolle in diesem Land (Óluva Tvørfoss, Anna Jane Utermohl Lund, William Wittrup Fock). Sie kommentieren das Geschehen wie ein griechischer Chor, verkörpern abwechselnd verschiedene Figuren oder hängen einfach bloß ab. Und sie kümmern sich um das Wohl des Publikums: Es gibt Popcorn, Trauben, Bonbons und um 3 Uhr morgens noch eine alkoholfreie Bowle zur Erfrischung.

Das ist alles lieb und nett. Ähnlich harmlos und leider ziemlich banal wird die Liebesgeschichte (Aufführungstext: Sonja Ferdinand und Ensemble) zwischen Iphigenie und Don Juan erzählt. Die beide treffen sich in einer Berliner Bar, verlieben sich ineinander und Iphigenie kann dank Don Juan endlich schlafen. Dann lässt das Liebesglück nach. Vielleicht ist die Großstadt schuld? Also Umzug aufs Land. Nach Brandenburg. Auch keine Lösung. Also muss ein Kind her. Spätestens hier verliert sich die Geschichte dann im Klischeehaften.

Don Juan verliebt sich via Internet in eine junge Norwegerin und Iphigenie, des Funktionierens müde, erschießt im Splatter-Movie-Modus ihr Kind. Und dann noch den – das Liebesabenteuer ist misslungen – zurückkehrenden Don Juan, der allerdings nicht totzukriegen ist. Immer neue kanonische Männerfiguren verkörpernd, steht er wieder auf. Am Ende, also um etwa halb vier Uhr morgens, landet das Paar auf der Therapiecouch. Und Iphigenie rückt damit heraus, dass sie Don Juan irgendwie doch noch liebt. Doch was hat das alles mit der Nacht zu tun? Mit dunklen Träumen? Der Schattenseite des Lebens?

Stimmt, da war ja was: die Nacht. Der Grund, warum das Publikum überhaupt so spät im Theater sitzt. Pflichtschuldig wird die Handlung also mit performativen Einschüben unterbrochen. Mal tritt eine sexy Cord-Katze mit Brüsten und blauen Highheels auf. Mal gibt es einen in Schwarzlicht getauchten Slow-Motion-Tanz des Ensembles.

Riipinen mischt sich im zweiten Teil der Aufführung als sabbernder Vampir unters Publikum. Es gibt ein bisschen Party im Vorraum, eine kleine Nachtwanderung ums Theater und ein Elektro-Konzert von der Musikerin Dragongirl. Alles irgendwie nett, aber auch ganz schön beliebig.

Hätten die Zuschauer also lieber zu Hause im kuscheligen Bett bleiben sollen? Nein, natürlich nicht. Ein interessantes Experiment ist die Produktion allemal. Und, wer weiß, vielleicht hat sich in dieser Nacht im Werkraum des Berliner Ensembles ja tatsächlich jemand verliebt.

„Insomnia“: Weitere Vorstellungen finden am 13. und 14. Oktober im Berliner Ensemble statt

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