Ureinwohner im Kreuzfeuer

Bei einem Massaker in einem indianischen Dorf Kolumbiens an der Grenze zu Ecuador werden zwölf Menschen ermordet

Rund 30 der 84 Ethnien sind inzwischen in ihrer Existenz bedroht

VON TONI KEPPELER

Es geschah Mittwoch früh, kurz vor dem Morgengrauen. Eine Gruppe von Männern in militärischer Tarnuniform, das Gesicht unter Sturmhauben verborgen, drang in einen Weiler im Schutzgebiet Gran Rosario nahe der südlichen Pazifikküste von Kolumbien ein. Ohne ein Wort zu sagen, schossen die Vermummten auf die Menschen, die dort schliefen. Fünf Männer, zwei Frauen und fünf Kinder starben im Kugelhagel. Das jüngste Opfer war gerade vier Monate alt. Zwei Erwachsene überlebten das Massaker schwer verletzt. Sie sind die einzigen Zeugen.

Gran Rosario ist ein Schutzgebiet für Indígenas des Volks der Awá in der Provinz Nariño nahe der Küstenstadt Tumaco. Seit Jahrhunderten leben die Awá dort im tropischen Regenwald am westlichen Rand der Anden, im Verband ihrer Großfamilien in kleinen, weit verstreuten Siedlungen aus Holzhäuschen auf hohen Stelzen. Rund 12.000 Mitglieder zählt die Ethnie. Von der Straße, die von Tumaco in die Provinzhauptstadt Pasto führt, muss man eineinhalb Stunden marschieren, um in die Siedlung zu kommen, in der das Massaker stattgefunden hat.

Es war nicht das erste Mal, dass dort Pistoleros mordend vorbeizogen. Ende Mai war ein Mitglied derselben Großfamilie ganz in der Nähe ermordet worden. Seine Frau und seine beiden Kinder starben nun am Mittwoch. Und Anfang Februar war ein anderer Weiler der Awá im nahe liegenden Schutzgebiet Barbacoa überfallen worden. Nach Angaben der Stammesältesten wurden dabei 17 Menschen gefoltert und erstochen. Zehn konnten rechtzeitig fliehen. Sie wurden wenige Tage später umgebracht.

Damals übernahm die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) die Verantwortung, allerdings nur für acht der Toten. Sie seien „festgenommen und hingerichtet worden“, weil sie mit der Regierungsarmee zusammengearbeitet hätten. Wer das Massaker vom Mittwoch angerichtet hat, ist noch völlig unklar. Sicher ist nur: Es waren keine Indígenas. Es waren „große Männer mit weißer Haut, einige von ihnen mit Schnurrbart“, zitiert Antonio Navarro Wolff, der Gouverneur der Provinz Nariño, erste Ermittlungsergebnisse.

Erst am vergangenen Wochenende war Navarro Wolff, ein ehemaliger Kämpfer der 1990 entwaffneten linken Guerilla M-19, bei einem Treffen von Vertretern der Awá und fünf weiterer indigener Ethnien in Pasto aufgetreten und hatte den Ureinwohnern Mut gemacht, für ihre Rechte einzutreten. Die fordern seit Jahren von Regierung, Paramilitärs und Guerilla, ihre Territorien zu respektieren. Doch je mehr Erfolge der rechte Präsident Álvaro Uribe im Kampf gegen die linke Guerilla vermeldet, desto mehr geraten die knapp 1,4 Millionen Indígenas Kolumbiens ins Kreuzfeuer.

Seit den Achtzigerjahren werden die indianischen Völker Kolumbiens gegen ihren Willen mehr und mehr in den bald 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg hineingezogen. Zunächst war es die Farc, die in ihren Dörfern junge Männer zwangsrekrutierte. Die Indígenas waren bei der Guerilla vor allem als Führer im Dschungel geschätzt, wurden aber auch als Kämpfer eingesetzt. Das hatte Folgen. Die Paramilitärs nahmen Rache und richteten erste Massaker an. Die ultrarechte Truppe war Anfang der Achtzigerjahre von Großgrundbesitzern zu ihrem Schutz vor Übergriffen der Guerilla aufgebaut worden. Tatsächlich aber ziehen sie mordend und brandschatzend durchs Hinterland und massakrieren jeden, der nicht auf der Seite der Regierung und deren Armee steht. Sie haben beste Verbindungen ins politische Umfeld von Präsident Uribe, kontrollieren nach eigenen Angaben mindestens ein Drittel des Parlaments und finanzieren sich – ähnlich wie die Farc – vorwiegend aus dem Drogenhandel. Angeblich wurden in den vergangenen Jahren über 30.000 Paramilitärs von der Regierung entwaffnet. Tatsächlich aber sind sie nicht verschwunden.

Seit Uribe 2002 ins Präsidentenamt kam, haben sich die Lebensumstände der indianischen Völker drastisch verschlechtert. Rund 30 der 84 Ethnien sind inzwischen in ihrer Existenz bedroht. Anders als seine Amtsvorgänger setzte Uribe nicht auf eine Verhandlungslösung mit der Guerilla, sondern auf militärischen Druck – mit der logistischen und finanziellen Hilfe der USA. Die Farc wurde in Dschungelgebiete und ins Hochland der Anden zurückgedrängt, dorthin, wo die Indígenas leben. Der Guerilla folgten die Paramilitärs, die Drogen- und die Waffenhändler. Die Provinz Nariño ist besonders umkämpft: Durch sie führt ein strategisch wichtiger Korridor für den Drogen- und Waffenhandel und es gibt im Dschungel jede Menge Koka-Pflanzungen. „In dieser Zone operieren alle illegalen Truppen“, sagt Navarro Wolff. Und die Armee natürlich auch.

Versprechen nicht gehalten

Uribes Haltung gegenüber den Indígenas ist ähnlich derjenigen der Paramilitärs. Auch der Präsident hält sie für potenzielle Unterstützer der Guerilla und lässt seine Armee entsprechend handeln. Zuletzt wurde das Mitte Oktober vergangenen Jahres bei Protesten in der Provinz Cauca mehr als deutlich. Über 7.000 Indígenas, die meisten vom Volk der Nasa, hatten sich im Schutzgebiet La María in der Nähe der Millionenstadt Cali verbarrikadiert und die Einlösung längst gemachter Regierungsversprechen gefordert. Nach zwei Massakern und Vertreibungen in den Jahren 1991 und 2001 waren ihnen Landtitel und die Rückführung der Vertriebenen zugesichert worden. Geschehen ist seither so gut wie nichts.

Uribe ließ die Armee mit Schlagstöcken, Tränengas und Waffen gegen die Demonstranten vorgehen. Es gab drei Tote und über 80 Verletzte, viele von ihnen mit Schusswunden. Der Präsident machte die Indígenas für die blutige Auseinandersetzung verantwortlich: „Sie werden gewalttätig und klagen uns dann vor der internationalen Gemeinschaft an.“ Die Proteste in Cauca seien nichts anderes als eine Propaganda-Aktion der Farc gewesen. Die Regierung solle diskreditiert werden, um so die Ratifizierung eines Freihandelsvertrags mit den USA zu verhindern.

Das Massaker vom Mittwoch will Uribe mit internationaler Hilfe aufklären. Er hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte darum gebeten, Armee und Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen zu unterstützen. Das Volk der Opfer traut dem nicht. „Vorfälle wie dieses Massaker weisen darauf hin, dass dunkle Kräfte mit dem Einverständnis der staatlichen Sicherheitskräfte das Volk der Awá ausrotten wollen“, sagt deren Sprecher Gabriel Bisbicus. „Wir haben keinerlei Vertrauen in die Ermittlungsbehören. Keiner der diesjährigen Morde an unseren Stammesgenossen ist aufgeklärt worden.“