Neue Vorwürfe an die libysche Regierung

Menschenrechtler fordern Untersuchung nach dem Mord an einem Journalisten. Freisprüche wegen Folter

MADRID taz ■ Die Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ ist entsetzt. Der in Libyen am 21. Mai entführte Journalist Daif al-Ghazal wurde vergangene Woche tot in der Nähe der Stadt Benghazi aufgefunden. Die Leiche weist schwerer Folterspuren auf. Ghazal wurde vor seinem Tod durch einen Kopfschuss schwer geschlagen. Die meisten Finger wurden ihm abgehackt.

„Wir fordern die libyschen Behörden auf, Licht in diese makabre Affäre zu bringen“, verlangt Zentrale von „Reporter ohne Grenzen“ in Paris. Für die Angehörigen und Kollegen des 32-jährigen Ghazal ist klar, wer hinter der Entführung steckt. Der kritische Journalist sei von Geheimdienstlern oder Mitgliedern der Revolutionskomitees entführt worden. Ghazal, der zehn Jahre lang in der Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi nahe stehenden Bewegung der Revolutionskomitees gearbeitet hat, war zur Opposition übergegangen. Auf der Seite der Internetzeitung von libya-alyoum.com griff er immer wieder die Korruption in seiner Heimat auf. Vor einem Jahr forderte er die Intellektuellen des nordafrikanischen Landes auf, sich gegen Machtmissbrauch und Korruption zusammenzutun. Im März war Ghazal verhaftet und drei Tage lang verhört worden.

Angehörige und Kollegen des Ermordeten fordern eine „minutiöse Untersuchung“. „Wenn diese Untersuchung nicht durchgeführt wird, hat die internationale Gemeinschaft einen Beweis mehr dafür, dass die Fortschritte in Sachen Menschenrechte nicht glaubwürdig sind“, heißt es in der Erklärung von „Reporter ohne Grenzen“.

Harte Worte, die auch von anderen Organisationen geteilt werden. Libya Watch macht auch nach der durch den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen eingeleiteten Westöffnung des Landes schwere Menschenrechtsverletzungen aus. Die in London ansässige Organisation berichtet, dass die Behörden in mehr als 300 Fällen den Familien von Gefangenen mitgeteilt haben, ihre Angehörigen seien unter „seltsamen Umständen“ in der Haft verstorben. Todesurkunden wurden keine ausgestellt. 258 Insassen seien im Gefängnis ganz einfach verschwunden.

Auch amnesty international bescheinigt Libyen im neuesten Jahresbericht „weit gestreute Menschenrechtsverletzungen“. Von „willkürlichen Verhaftungen von echten oder vermeintlichen Oppositionellen“ ist die Rede. Auch Misshandlung und Folter gingen weiter und würden von staatlicher Seite gedeckt.

Erst am Dienstag wurden mehrere Polizisten vom Vorwurf der Folter an Krankenschwestern aus Bulgarien freigesprochen. Die fünf Osteuropäerinnen und ein palästinensischer Arzt hatten erklärt, sie seien durch Folter zu Geständnissen in einem spektakulären Prozess um HIV-Infektionen gezwungen worden. Auf Grundlage der Geständnisse waren sie im vergangenen Jahr zum Tod verurteilt worden, da sie angeblich 426 Kinder in einer libyschen Klinik absichtlich mit dem Aidsvirus infiziert hätten.

Revolutionsführer Gaddafi selbst leugnet anlässlich der Besuche europäischer und US-amerikanischer Staatsmänner und Politiker die Folterpraxis immer wieder. Für ihn gibt es in den libyschen Gefängnissen auch keine politischen Gefangen, sondern nur „normale Kriminelle und Ketzer“. Die Besucher geben sich meist mit diesen Erklärungen zufrieden. Denn der skurrile Oberst ist dank des Verzichts auf Massenvernichtungswaffen und der Entschädigung der Hinterbliebenen der Opfer der Anschläge auf einen Linienflug über dem schottischen Lockerbie 1988 und auf die Diskothek „La Belle“ in Berlin 1986 wieder ein interessanter Wirtschaftspartner. REINER WANDLER