berliner szenen
: Wenn die Wespe zusticht

Ein Wespenstich am Westkreuz. Kurz fluch ich. Am S-Bahnsteig, dem Ort des Geschehens, benennt man den Vorfall richtig – „die hat zugestochen!“, heißt es. Eine Frau bietet mir Hilfe an, mit einer Hand nestelt sie schon an ihrer Umhängetasche. Aber es ist nur ein rotes Pünktchen am Finger, halb so schlimm.

Auf der Fahrt fällt mir ein, dass ich schon mal am Bahnsteig gestochen worden war, am Theo, und zwar im Winter. Im Winter im U-Bahnhof von einer Wespe gestochen zu werden rat ich niemandem. Keiner der Umstehenden konnte, wollte das zuordnen. Zu irreal. Sie stempeln den Aufschreienden als Spinner ab, sehen, zack, weg, so mein Fazit. Dabei war die Sache nicht ganz ohne. Natürlich wusste auch ich zuerst nicht, wo der Schmerz am Hals, unterm Schal, herrührte, und kratzte, bis ein zweiter Schmerz hinzukam. Ich dachte nicht im Traum an eine Wespe – bis eine solche aus meinem Kragen krabbelte und in hohem Bogen über den Gleisen davonflog. Die Stelle schwoll rasch an. Mechanisch-intuitiv griff ich nach meinem Opinel, nahm die vorhin gekaufte Zwiebel aus dem Rucksack, schnitt sie entzwei und presste sie an meinen Hals. Mit Erfolg, der Schmerz ebbte ab, ebenso die Schwellung, auch nach innen hin zur Luftröhre.

Ich konnte durchatmen und die nächste Bahn nehmen. Die Menschen, die mir kurz zuvor am Bahnsteig nicht geholfen und ostentativ zur Seite gesehen hatten, standen jetzt mit mir im Waggon. Ich hatte den Drang, ihnen nachzuerzählen, was passiert war – nämlich, dass etwas passiert war und nicht nichts, ich wollte zum Beweis schon fast die Stichstellen vorzeigen und die inzwischen ausgelaugten Zwiebeln.

Nur eine Haltestelle lang währte der Drang. Dann öffneten sich die Türen, ich musste raus, denn ich war in die falsche Richtung gefahren. Felix Primus