Appellbrief für Afghanistan-Flüchtlinge

GAL alarmiert Innenministerkonferenz: Hamburgs Senat breche mit Kabul-Abschiebungen Länderkonsens. Lage in Afghanistan „desaströs“. Aktueller UN-Bericht warnt: „Von stabilen Verhältnissen kann nicht gesprochen werden“

Um die Afghanistan-Abschiebungen aus Hamburg zu stoppen, bittet die GAL-Opposition jetzt den Vorsitzenden der deutschen Innenministerkonferenz (IMK) um Unterstützung. In einem der taz vorliegenden Brief an den Baden-Württembergischen Innenminister und IMK-Vorsitzenden Heribert Rech (CDU) appelliert die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Antje Möller, eine Neubewertung der Situation in Afghanistan vorzuschlagen. „Die desaströse soziale Lage und die zunehmende Gewalt verschlechtern die Sicherheit in dem kriegszerstörten Land“, warnt Möller, die sich im Mai selbst vor Ort ein Bild gemacht hatte. Nun bittet sie Rech, die „Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen“ und einen einheitlichen Umgang der Länder mit den Flüchtlingen zu erreichen. Dass Hamburg „im Alleingang“ abschiebe, sei „unverantwortbar“.

Die IMK tagt am 23. und 24. Juni in Stuttgart. Auf der Tagesordnung steht ein bereits formuliertes Bleiberecht für Afghanen, die länger als sechs Jahre hier sind, Arbeit haben und nicht Sozialhilfe beziehen. Alle anderen seien auszufliegen, sobald ein Rückführungsvertrag zwischen Kabul und Berlin geschlossen ist – so vereinbarte es die IMK zuletzt. Dieses „Memorandum of Understanding“ ist bisher nicht zustande gekommen.

In Hamburg wären bis zu 5.000 der rund 15.000 hier lebenden Afghanen betroffen. Der Senat betreibt bereits die Abschiebung von allein stehenden Männern. Damit durchbreche die Hansestadt den IMK-Beschluss, schreibt Möller nach Stuttgart. Eine Neubewertung der Lage in Afghanistan durch die Minister könne Hamburg stoppen sowie den Bund dazu bewegen, ein Memorandum doch noch abzuschließen. „Zwingend“ müssten darin die Erkenntnisse des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) einfließen, so die Grüne: „Nur dann kann ein mit humanitären Grundsätzen zu vereinbarendes Vorgehen erreicht werden.“

Kritik an den Kabul-Abschiebungen übte gestern auch die Hamburger Lehrergewerkschaft GEW. Anlässlich eines Podiums „50 Jahre Zuwanderung“ rügte GEWler Rolf Semmelrock, es sei „nicht hinnehmbar, dass afghanische Schüler laufende Ausbildungen abbrechen und Deutschland verlassen müssen“. Der Senat müsse „die belastende Situation für die Schüler entschärfen“. Seine Kollegen berichteten von „großer Unruhe und Angst“ in der afghanischen Gemeinde, so der Mathe-Lehrer. Er selbst habe erlebt, wie ein Schüler weinend „zusammenbrach“, weil er eine Vorladung in die Ausländerbehörde erhalten hatte. Die GEW forderte Innensenator Udo Nagel (parteilos) auf, die Warnungen des UNHCR ernst zu nehmen.

Der Senator hatte im April von einer Kabul-Reise „positive Eindrücke“ mitgebracht und erklärt, die Flüchtlinge könnten heimkehren. In einem Papier aus demselben Monat mit dem Titel „Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention auf afghanische Flüchtlinge“ konstatieren die UN dagegen: „Von einer Wiederherstellung stabiler Verhältnisse kann in Afghanistan noch nicht gesprochen werden.“ Die militärischen Auseinandersetzungen hielten an, in „zahlreichen Provinzen“ müssten „regierungsfeindliche Aktivitäten“ bekämpft werden. Bei „realistischer Betrachtung“ sei eine „Wiederherstellung des Gewaltmonopols der Regierung“ nicht vor 2007 oder 2008 zu erwarten.

„Besorgniserregend“ ist aus UN-Sicht weiterhin auch die humanitäre Lage: Massenarbeitslosigkeit, Wohnraum- und Nahrungsnot sowie „gravierende Mängel des Gesundheitswesens“ listet das UNHCR auf. Mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 43 Jahren und einer Kindersterblichkeit von 26 Prozent gehöre Afghanistan zu den „am wenigsten entwickelten Staaten der Welt“. Eva Weikert