Allein zu Haus am 1. Mai: Die Feuerwehr warnt, aber wir helfen uns gegenseitig
DORIS AKRAP
Es war ein arbeitsfreier Tag, und die Sonne schien, weil sie keine andere Wahl hatte, auf Radio-Eins-Hörer in Kreuzberg. Draußen wummerten wie immer an diesem Tag, es war der 1. Mai, diverse Soundsysteme, und diverse Menschensysteme trommelten auf irgendwelchen Gegenständen herum. Alle Radio-Eins-Hörer waren draußen, nur ich nicht. Ich hörte Radio Eins. Und fragte mich, für wen die an diesem Tag eigentlich Radio machten. Es muss also noch mehr Leute geben, die an einem Tag wie diesem einfach nicht rausgehen. Es gibt ein Buch, da geht es darum, dass der Erzähler beim Lesen eines Romans mitbekommt, was andere Leser, die genau in diesem Moment denselben Roman lesen, so empfinden, während sie lesen. Daran musste ich jetzt denken. Was machen andere Leute, die auch gerade nicht draußen sind und Radio Eins hören? Popel aufessen, masturbieren, Leute auf Facebook stalken, drüber nachdenken, rauszugehen?
Warum höre ich eigentlich immer noch Radio Eins? Weil es zweieinhalb schlagfertige Moderatoren gibt? Weil hin und wieder ein luftiger Frühlingshit läuft? Früher war der Sender weit weg im beschaulichen Potsdam, und da ging es einem in Kreuzberg nicht so nahe. Mittlerweile gibt es gefühlte 300 Außenstationen in ganz Berlin, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht den Namen meiner kleinen Kreuzberger Straße bei Radio Eins höre, weil da irgendwelche Radio-Eins-Konzerte stattfinden. Und mit Radio Eins ist es wie mit anderen Beziehungen: Je näher man sich kommt, umso besser lernt man sich kennen und umso mehr entdeckt man die kleinen Macken, die sich als unheilbare Psychosen herausstellen.
Während also gerade noch die Toten Hosen kurz vor dem Wetterbericht laufen und ich die Information verarbeite, dass bei Ludwigsfelde auf der Autobahn ein Lkw liegen geblieben ist, quietscht schon Jamiroquai. Vielleicht wäre Jamiroquai sogar halbwegs erträglich, wenn es Radio Eins nicht gäbe. So aber ist es die tägliche Dosis Folter. Bis plötzlich der Berliner Chef der Feuerwehr interviewt wird. Es sei doch bestimmt was ganz Besonderes, in Berlin Feuerwehrchef zu sein, wird er gefragt. Gut, denke ich, das könnte jetzt auch Radio Energy sein. Bis der Mann spricht. Ja, es sei was ganz Besonderes, denn in der Stadt balle sich ja einiges zusammen: Arme, Migranten, Kriminelle und Single-Haushalte. Single-Haushalte? Wow! Sicherheitsrisiko Single-Haushalt! Das ist doch mal eine Nachricht, die bewegt. Lebe ich also extrem gefährlich? Immerhin ist mein Single-Haushalt der Nachbar eines anderen Single-Haushalts: Muss unsere Etage also unter besondere Beobachtung gestellt werden? Mein Single-Nachbar hat sich auch schon mehrmals fast die Bude abgebrannt, weil er besoffen mit irgendeinem Gebrutzel auf dem Herd eingeschlafen ist. Aber wir helfen uns gegenseitig. Kürzlich erst habe ich ihn davor bewahrt, im Treppenhaus zu übernachten, wo er sich hingelegt hatte, weil er die vielen Treppen nicht mehr alleine hochgehen konnte. Die Feuerwehr brauchte also gar nicht zu kommen. Wir Single-Haushalte halten zusammen.
Der Vollständigkeit halber seien noch meine neuesten Erkenntnisse aus dem benachbarten Sandwichkiez berichtet: Die Zahl der Single-Haushalte rund um die Reichenberger Straße steigt, die Zahl der Haushalte mit Kindern sinkt. Wir sind jetzt bei nur noch 18 Prozent Familie mit Kinderhaushalten. Die Gentrifizierungsgegner sind sich mit der Berliner Feuerwehr, die passenderweise auch im Reichekiez liegt, einig: Die Single-Haushalte sind gefährlich. Trotzdem Entwarnung: Die Martha-Gemeinde in der Glogauer veranstaltet entgegen anders lautender Gerüchte keinen Single-Kreis, sondern einen Singekreis.
DORIS AKRAP
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