berliner szenen
: Klima­wandel am Ostkreuz

Ostkreuz am späten Nachmittag. Überall Gedränge und Geschiebe. Bleiern liegt die Hitze über dem Bahnhof. Auch die vollbesetzte Rolltreppe scheint zu leiden, kommt nur mühsam voran. Dabei habe ich es eilig. Meine Flucht ins Grüne steht unmittelbar bevor. Nur noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Mein Rucksack ist schwer. Ich schwitze unter der Last und träume von dem See, der mich am Abend als Belohnung erwartet.

Plötzlich vernehme ich hinter mir eine lauthalsige Störung. „Schlunze“ höre ich. Und „Anarcho-Fotze“. Ich drehe mich um und sehe eine junge, dunkelhaarige Frau mit Fahrrad beschämt zur Seite blicken. Eine Stufe unter ihr, nur durch das Fahrrad voneinander getrennt, steht ein älterer Mann in verschmutzter Sportkleidung, bewaffnet mit einer halbleeren Bierflasche. Der Mann sondert eine Schmähung nach der anderen ab. Völlig grundlos, wie mir scheint. Die junge Frau wird ihn kaum zuerst beleidigt haben. Sie erwidert meinen Blick und lächelt. Ich nehme das als Aufforderung, ihr beiseite zu stehen, und erhebe nun selbst meine Stimme. Abrupt hält der Mann in seinem Schimpfwortgewitter inne und wirft mir einen seltsam verwirrten Blick zu. Was habe ich denn falsch gemacht, scheint der Blick zu fragen. Worauf ich ihm einen weiteren derben Satz an den Kopf werfe.

„Sie hätten nicht so grob sein dürfen“, sagt die junge Frau, als wir endlich oben ankommen. „Haben Sie nicht bemerkt, dass der Mann eine Störung hat? Sagt Ihnen Tourette etwas?“ Sie schüttelt den Kopf, als wäre damit alles gesagt, und geht ihrer Wege.

Wie versteinert bleibe ich zurück. Der Schweiß läuft mir in die Augen. Ich begreife nicht, was in mich gefahren ist. Im Übrigen hat mein Zug die Reise ohne mich angetreten. In zwei Stunden fährt der nächste. Henning Brüns