TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Eine profane kleine Stadt in Bayern

Das letzte Mal, dass Religion sich mir in Raum und Zeit schob, hielt ich mich in Antalya auf und ein Muezzin quäkte aus einem Lautsprecher. Ich verstand ihn nicht und doch beherrschte er meine Stimmung. Wie jede religiöse Äußerung erinnerte sie mich an Schuld und damit an Vergangenheit und Zukunft und stahl mir so kurzzeitig die Gegenwart.

Dann kam Bayern. Kürzlich. In einem Hotel mit zu viel Kiefernholz, das auch an Vergangenheit in schlecht belüfteten Partykellern erinnert, raubten mir Katholiken mit einem Viertelstundengeläut den Schlaf. Hier sollte man selbst im Schlaf nicht von Demut befreit sein. Welch starken Begriff von Sünde müssen die haben, dachte ich. Das Glockengeläut, das im Mittelalter den Fremden den Weg in den Ort wies, diente nun dazu, mir, einer Fremden, mittels 60 Dezibel, die im Schlaf Stressreaktionen verursachen, eine örtliche Ordnung zu oktroyieren, die unter dem säkularisierten Lärm der Großstadt sich amorphisiert. Ich fragte mich, ob das nicht eine Form des Totalitarismus ist und wie ihm zu begegnen sei. Sollte ich mich auf den Marktplatz stellen und rufen „Gott ist tot“? Sicher hätte es für solche Fälle noch den Kerker gegeben. Gibt es denn kein Recht auf Freiheit von Religion?

Schließlich fielen mir Badiou und Zizek ein, die sich in ihren Schriften auf die Agape beziehen, und ich fragte mich, wo die christliche Praxis zu dieser Idee ist. Wie Slavoj Zizek in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Totalitarismus“ (Laika, 2012) erklärt, ist doch die Logik des Bezahlens, des Tausches die eigentliche Sünde und „der Einsatz von Christi Tat besteht darin zu zeigen, dass diese Kette des Tausches durchbrochen werden kann“. Christus zeige uns, dass wir aus dem Teufelskreis von Sünde und Bezahlung ausbrechen können, indem er unsere Sünden lösche und sie durch Liebe ungeschehen mache.

Aber warum lassen die mich dann mit meinem Schlaf bezahlen? Und wieso dürfen die das?

■ Die Autorin ist Kulturredakteurin