Volksbewegung berät weiteres Vorgehen

Uneinigkeit bei sozialen Bewegungen: Manche setzen auf Neuwahlen, andere rufen schon die Revolution aus

Noch ist unklar, ob es neben Präsidentschaftswahlen auch zur Neuwahl des Parlaments kommt

PORTO ALEGRE taz ■ Unmittelbar nach der Vereidigung von Eduardo Rodríguez zum neuen bolivianischen Präsidenten deuteten Organisatoren der wochenlangen Straßenproteste ein Einlenken an. „Sobald die Neuwahlen ausgerufen sind, ziehen wir uns zurück“, sagte der Bauernführer Román Loayza, ein führendes Mitglied der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS).

MAS-Chef Morales, der sich jetzt früher als ursprünglich gewünscht in seinen zweiten Präsidentschaftswahlkampf stürzen muss, forderte Rodríguez auf, die sozialen Anliegen der DemonstrantInnen ernst zu nehmen. Um das Land zu befrieden, müsse bald in der Energiepolitik umgesteuert und eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden, so Morales, doch die wichtigste Aufgabe des Übergangspräsidenten sei jetzt die rasche Einberufung der Neuwahlen.

Laut Verfassung kann Rodríguez nur die Präsidentenwahl ansetzen, nicht aber Kongresswahlen. Daher zeichnet sich bereits eine Neuauflage des Tauziehens zwischen Exekutive und Legislative ab, das entscheidend zu den Massenprotesten beigetragen hatte: Das Parlament, das regulär bis 2007 amtiert, müsste die vorzeitige Selbstauflösung per Sondergesetz beschließen.

Während Morales und seine Anhänger die Kundgebungen bis auf weiteres einstellen dürften, ist die Lage in El Alto, dem wichtigsten Zentrum der Proteste, unübersichtlicher. Jaime Solares vom Gewerkschaftsdachverband COB und der Aymara-Bauernführer Felipe Quispe fordern jetzt die Unterstützung der über 400 Stadtteilkomitees (Fejuve) von El Alto, der an den Regierungssitz La Paz angrenzenden 800.000-Einwohner-Stadt. Für den besonders verbalradikalen Solares hat die „Volksversammlung“, die sich vorgestern an der dortigen Universität konstituierte, bereits den Charakter einer „Parallelregierung“. El Alto werde zum „Hauptquartier der nationalen Revolution“, tönte er.

Die Präsidenten der Stadtteilkomitees, die eine sofortige Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasressourcen fordern, wollten gestern über ihr weiteres Vorgehen beraten. „Ich will verantwortungsvoller sein als einige andere Anführer“, sagte der Fejuve-Vorsitzende Abel Mamani, „in El Alto gibt es keine Revolution.“ GERHARD DILGER