Neubeginn in Bolivien

AUS PORTO ALEGREGERHARD DILGER

Es war der glückliche Schlusspunkt eines dramatischen Tages in Bolivien: In der Nacht zum Freitag übernahm der Jurist Eduardo Rodríguez, bislang Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs, die Amtsgeschäfte von Staatschef Carlos Mesa. Lange schien es, als könnten die wochenlangen Kundgebungen für eine Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasreserven und eine politische Erneuerung des Andenlandes in einen Bürgerkrieg münden.

18 Kilometer vor der Hauptstadt Sucre, wo der Kongress über die Nachfolge Mesas entscheiden wollte, hatte es bereits den ersten Toten gegeben: Soldaten erschossen den 52-jährigen Minenarbeiter Carlos Coro, der sich an den Protesten gegen den konservativen Politiker Hormando Vaca Díez beteiligen wollte. Der Parlamentspräsident, ein Vertreter der Oberschicht aus dem ostbolivianischen Santa Cruz und allem Anschein nach der Wunschkandidat Washingtons, rechnete sich in den letzten Tagen gute Chancen auf Mesas Nachfolge aus. Wie kaum ein anderer steht er für jene traditionelle Politikerkaste, die Bolivien in den letzten Jahrzehnten heruntergewirtschaftet hat. Selbst Bischöfe hatten vergeblich an ihn appelliert, zur Seite zu treten.

Um dem Druck der Straße auszuweichen, hatte Vaca Díez den Parlamentssitz kurzerhand um 600 Kilometer verlegt, von La Paz nach Sucre. Doch das Kalkül ging nicht auf: Während tausende indigene Bergleute und Kleinbauern nach Sucre strömten, zeichnete sich zwar noch eine Mehrheit der Parlamentarier für Vaca Díez ab. Aber als sich die Nachricht vom Tod des Bergmanns wie ein Lauffeuer in Sucre verbreitete, kippte die Stimmung. Minenarbeiter unter den Demonstranten zündeten Dynamitstangen, die Polizei antwortete mit Tränengas. Bauernführer riefen zur Blockade der Ausfahrtsstraßen und des Flughafens auf, um die Abreise der Politiker zu verhindern.

Als wenig später der Fraktionschef der Rechtspartei NFR für Neuwahlen plädierte, hatte Vaca Díez bereits verloren. Umringt von einem Dutzend Uniformierten verließ er zwei Stunden darauf den Palast der Regionalregierung, bestieg einen roten Jeep und rauschte in mit einer Kohorte von 30 Motorrädern und zwei Polizeiwagen zu einer Kaserne in den Außenbezirken. Von dort aus machte er Mesa und Oppositionsführer Evo Morales für die Konflikte verantwortlich – und kündigte seinen Rücktritt an. Danach war die Ernennung von Eduardo Rodríguez nur noch eine Formsache.

Der 49-jährige Jurist muss nun bis spätestens Dezember Neuwahlen organisieren. In seiner Antrittsrede kurz vor Mitternacht fand er die richtigen Worte: „Mein Mandat hat auch mit der Erneuerung des Systems zu tun“, sagte Rodríguez. Und: „Wir müssen das Thema der Erdgas- und Erdölressourcen und ihren wirklichen Besitz für Bolivien aufgreifen.“

Aus der Sicht nicht nur der Protestbewegung ist Carlos Mesa gerade an diesen beiden Themen gescheitert. „Ich habe Fehler begangen, aber ich habe ein reines Gewissen“, sagte Mesa zum Abschied. Für den Soziologen Fernando Calderón sind die Privatisierungen der Neunzigerjahre ein Paradebeispiel für die absurden Auswirkungen einer ungebremsten Globalisierung: „Im Grunde geht es jetzt darum, den Staat wieder als Akteur für die nationale Entwicklung einzusetzen.“

Mit dem Einstieg von über 20 ausländischen Firmen in die Erdgasförderung seit 1996 haben sich die Staatseinnahmen daraus auf weniger als 200 Millionen Dollar jährlich halbiert – dabei hat Bolivien nach Venezuela die zweitgrößten Erdgasreserven Lateinamerikas. „Die Hauptverantwortlichen sitzen in Washington“, meint der Aktivist Jim Shultz aus Cochabamba: „Die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank durchgesetzte Politik hat die meisten Menschen noch ärmer gemacht.“