Lebenslinientreu

Neue Folgen der wunderbar unmodernen Porträtreihe „Lebenslinien“ (montags, 19.30 Uhr, BR)

Man muss es mal so deutlich sagen: Die Porträtreihe „Lebenslinien“ vom Bayrischen Rundfunk ist Regionalfernsehen, wie es sein sollte – Fernsehen über die Menschen einer Region. So etwas ist ein seltenes Glück in einer Zeit, in der die dritten Programme nur mehr den touristischen Blick zu kennen scheinen. Und das eigene Sendegebiet einzig als Kulisse für einen Wochenendausflug. Die „Lebenslinien“-Autoren dagegen begeben sich nahe zu den Menschen – und damit ist ausnahmsweise einmal nicht die „Zielgruppe“ gemeint.

Seit letzter Woche zeigt der BR wieder neue Folgen der vor zehn Jahren etablierten Serie. Am 20. Juni zum Beispiel den Film „Gebt euch die Hand und verzeiht“. Dessen Bilder nehmen sich Zeit, lassen sich nicht drängeln. Zu lange wurden da Leben schon gelebt, als dass ein paar schnelle Schnitte angemessen erscheinen würden. Angemessene Bilder lassen sich für das Erzählte noch schwerer finden. Für den polnischen Zwangsarbeiter, für eine junge, prekäre Liebe in Zeiten des Krieges, für das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Stattdessen bleibt der Film dicht an den alltäglichen Wegen einer alten Frau. Anni W. aus einem Weiler im nördlichen Allgäu, Anni W. aus dem Konzentrationslager Ravensbrück wird den Zuschauern ihre Geschichte in ihrem Tempo erzählen. Genauso der taubblinde Helge (20. 6.), dessen überraschend kommunikationsfreudiges Leben in den neuen Folgen der Reportagereihe porträtiert wird. Oder der gebürtige Südafrikaner Christian (27. 6.), der einmal Solotänzer an der Bayerischen Staatsoper war und inzwischen auf seinem verfallenen „Gnadenhof“ für altersschwache Haustiere lebt.

Auch das zeigen die „Lebenslinien“: Wunden – aber sie stellen sie nicht aus, stellen niemanden bloß. Letztlich ist genau dies das Großartige an den „Lebenslinien“: die Bereitschaft zum Zuhören, die Bereitschaft, die Mechanismen der Medienmoderne zu ignorieren. Kamera und Tonspur kommen dabei manchmal so ungelenk daher, als wollten sie nur noch einmal unterstreichen, dass es hier um die Abgebildeten geht, nicht um die Bilder. Denn auch das sind die im Übrigen überaus erfolgreichen „Lebenslinien“: Fernsehen ohne Modernisierungsdruck.

In gewisser Weise fällt da die heutige Folge ein wenig aus dem Rahmen. Und passt doch ins „Lebenslinien“-Konzept, das etwas bekanntere Gesicht gleichberechtigt neben die scheinbar zufällig und doch mit viel redaktioneller Akribie gefundenen Nischenerzählungen zu stellen. „Gut, besser, Hanitzsch“ nennt sich eine liebenswürdige Hommage an den Karikaturisten Dieter Hanitzsch – einmal mehr das eben auch typisch bayrische Anliegen, den typischeren Bayern gerade im oppositionellen Bayern zu finden. C. NIEDENTHAL