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Lachender Ozean

Er wird oft mit Gandhi verglichen, doch gegen ihn ist Gandhi ein Gewalttäter Der Dalai Lama hat sich auf eine neue Inkarnation festgelegt – außerhalb Chinas

VON KLEMENS LUDWIG

Sein Arbeitstag beginnt um 4.30 Uhr. Der Dalai Lama meditiert, gibt Flüchtlingen aus dem besetzten Tibet Audienzen, empfängt Journalisten zu Interviews. Selbst nach zehn Stunden der Konzentration auf dutzende Besucher kann er einem Menschen das Gefühl geben, dass er sich persönlich auf ihn einlässt. Er arbeitet konzentriert und hört geduldig zu. Nie ist da eine Spur von Müdigkeit. Häufig wirkt er sogar so, als ob er das alles genießt. Dann kichert er herzlich.

So kennt ihn die Welt: klein, überaus sanftmütig und stets mit seinem typischen Lächeln, das bisweilen von einem lauten Lachen abgelöst wird. In Deutschland, diese Woche sein Reiseziel, wird er verehrt. Als das Allensbach-Institut die Deutschen 2002 nach dem weisesten lebenden Menschen auf Erden fragte, lag er an der Spitze der Rangliste – vor Männern wie Nelson Mandela und Kofi Annan. Und vor Papst Johannes Paul II. Wie wird die Welt erst reagieren, wenn er stirbt? Denn obwohl der 14. Dalai Lama im Juli erst 70 wird, ist die Frage seines Todes und seiner Wiedergeburt bereits jetzt politisch bedeutsam – vor allem für Tibeter, Exiltibeter und die chinesische Führung.

Dazu muss man wissen, wie ein Dalai Lama überhaupt gefunden wird. Der Amtierende wurde am 6. Juli 1935 als Sohn einer Bauernfamilie in Takster in der nordosttibetischen Provinz Amdo geboren. Seine Inthronisierung basiert auf der Lehre von der Wiedergeburt. Nach tibetisch-buddhistischer Tradition hinterlässt ein Dalai Lama bei seinem Tod Hinweise darauf, wo er sich erneut inkarniert. Es ist die Aufgabe hoher Würdenträger, ihn mithilfe von Orakeln, Trancen und Träumen ausfindig zu machen. Dieses Verfahren verhindert, dass eine Herrscherdynastie über lange Zeit die Macht ausübt. Zwölf der bisherigen 14 Inkarnationen stammen aus einfachen Verhältnissen fern der Hauptstadt Lhasa.

Im Falle des heutigen Dalai Lama träumten die Würdenträger von einem bestimmten See. Ein Suchtrupp wählte verschiedene Kinder der Gegend aus, deren Zeugung ungefähr mit dem Tod des alten Dalai Lama zusammenfiel, und zeigte den kleinen Jungen mehrere Gegenstände, darunter einige aus dem Besitz des alten Dalai Lama. Nur einer erkannte sie. So wurde der Bauernsohn zum „Lehrer des Weltmeers“, zum „Ozean des Wissens“ – das bedeutet der Titel „Dalai Lama“.

Unter der chinesischen Besetzung entschloss er sich, 1959 nach Indien zu fliehen, wo er in Dharamsala im nordwestlichen Himalaja eine neue Heimat fand. Viele Menschen zieht die buddhistische Ethik der Toleranz und Gewaltlosigkeit an. Schon früh am Morgen sammeln sich die Pilger, die in einem wachsenden Strom durch die engen Gassen des Ortsteils McLoed Ganj zum zentralen Tempel laufen. Um der Tradition treu zu bleiben, haben die Tibeter wie in Lhasa einen Ritualweg um den Komplex herum angelegt. Zudem haben die wichtigsten buddhistischen Schulen und das Nationaltheater hier ihren Sitz. Es ist ein kleines Reich, das dem Dalai Lama geblieben ist, er finanziert es aus Steuern und Spenden der Exiltibeter sowie aus Zuwendungen reicher Gönner.

An ruhigeren Tagen genießt er abends noch ein wenig seine kleine Idylle. Er liebt Blumen, vor allem Orchideen, die in einem Gewächshaus neben seiner Residenz blühen. Zudem interessiert ihn seit seiner Jugend die Technik. Für das alte Tibet war das etwas Neues. Als ein reicher Tibeter das erste Auto aus Indien über den Himalaja nach Tibet einführte, gab es einen Skandal. Aber der junge Dalai Lama bestand darauf, in dem Wagen fahren zu dürfen. Er überlebte. Seitdem ist Autofahren in Tibet akzeptiert.

Für solche Kurzweil bleibt ihm heute wenig Zeit, denn er kämpft für die Selbstbestimmung der etwa sechs Millionen Tibeter. Er kämpft auf seine Weise. Er fordert längst nicht mehr die Unabhängigkeit, um Verhandlungen mit Peking zu ermöglichen. Bei einer echten Autonomie solle China die völkerrechtliche Souveränität über Tibet ausüben, sagt er. Eine wachsende Zahl von Kritikern, insbesondere unter den jungen Tibetern, beklagt, dadurch würden bereits im Vorfeld von Verhandlungen zu schwache Positionen festgeklopft und zu wenige Spielräume offen gelassen. Und Irritationen gibt es auch zunehmend wegen seiner Strategie.

Häufig wird der Dalai Lama mit Mahatma Gandhi verglichen, doch die Vorgehensweise der beiden unterscheidet sich grundlegend. Als der Tibetische Jugendkongress im März 2004 vor dem UN-Hauptquartier in New York einen unbefristeten Hungerstreik begann, wurde er vom Dalai Lama kritisiert: Ein solches Mittel sei Gewalt gegen sich selbst. Nach dieser Definition ist Gandhi sehr gewalttätig gewesen.

Oder als der Dalai Lama in Belgien ausgeladen wurde, weil er Schatten auf eine Staatsvisite von König Albert II. in Peking geworfen hätte. Er zeigte dafür volles Verständnis. Gandhi hätte eine solche Rückgratlosigkeit kaum abgesegnet, er scheute keine Provokation der britischen Kolonialmacht.

Der Dalai Lama dagegen verzichtet auf jede Provokation und versucht, möglichst viele Menschen zu erreichen, auch wenn dabei die Inhalte verschwimmen. Dies lässt sich nur aus seinem Selbstverständnis erklären. Er sieht sich in erster Linie als buddhistischer Mönch, und als solcher ist er dem Wohlergehen aller verpflichtet, letztlich dem der Chinesen ebenso wie dem der Tibeter, egal ob Buddhist oder Nichtbuddhist. Das ist aber für junge Tibeter schwer nachzuvollziehen und politisch nicht immer klug. Seine abendländischen Bewunderer fasziniert gerade das. Der Dalai Lama gibt dem spirituell hungrigen Westen Sinnangebote – und das in einer Form, die der Okzidentale auch verdauen kann.

Chinas Führung honoriert das Entgegenkommen des Dalai Lama nicht. Stereotyp erklärt sie, er müsse Tibet als integralen Bestandteil Chinas anerkennen, bevor substanzielle Gespräche möglich seien. Genau diese Unnachgiebigkeit leistet den Spekulationen über die Zeit nach dem 14. Dalai Lama Vorschub. Offenbar hofft man in Peking, das Problem aussitzen zu können. Ist der alte Mönch erst einmal gestorben, ist auch das Tibetproblem aus der Welt, lautet dort die Devise.

Die Besonnenen unter den Tibetern im Exil fürchten, danach könnte es zu einer Eskalation kommen, weil keine Autorität mehr da ist, um die jungen Heißsporne zu besänftigen. Niemand gibt sich der Illusion hin, mit Gewalt etwas gegen die Besatzungsmacht ausrichten zu können, doch mit dem Blick auf Kurden, Palästinenser oder Osttimorer wächst die verzweifelte Hoffnung, durch militanten Widerstand oder terroristische Aktionen politisch ernst genommen zu werden. Auf jeden Fall wird nach dem Dalai Lama ein Vakuum entstehen, das solchen Planspielen Raum gibt.

Der Dalai Lama selbst hat mehrfach erklärt, er schließe eine Wiedergeburt in einem von China beherrschten Tibet kategorisch aus. Damit will er auch dem Schicksal vorbeugen, das dem Pantschen Lama widerfahren ist, Tibets zweithöchstem Würdenträger. Er ist im Land geblieben und hat sich loyal gegenüber der kommunistischen Führung verhalten. Nach seinem Tod 1989 erlaubte die chinesische Führung deshalb erstmals, im Land nach seiner neuen Inkarnation zu suchen. Führende Äbte seines Klosters fanden schließlich Gendun Choekyi Nyima, einen in Tibet geborenen Jungen, der auch vom Dalai Lama anerkannt wurde. Das jedoch betrachtete Peking als Provokation und „Einmischung in innere Angelegenheiten“. Der neue Pantschen Lama wurde entführt und ist seither von keinem unabhängigen Zeugen mehr gesehen worden. Die Staatsführung inthronisierte einen eigenen Kandidaten. Zufällig sind seine Eltern Mitglieder der KP.

Nach dem Tod des Dalai Lama auch einen KP-Sprössling als obersten Würdenträger zu installieren – diese Karte kann die Führung in Peking jedoch kaum mehr spielen. An die Ankündigung des Dalai Lama, außerhalb Tibets wiedergeboren zu werden, werden die Tibeter nach seinem Tod glauben. „Wir gehen als Buddhisten davon aus, dass ein so hoher religiöser Würdenträger selbst bestimmen kann, wann und wo er wieder einen Körper annimmt oder ob er sich grundsätzlich entscheidet, die Reinkarnationslinie zu beenden“, meint Tsewang Norbu, ein in Deutschland lebender Tibeter.

Vor einigen Jahren erklärte der Dalai Lama, er werde nur dann noch einmal auf die Welt kommen, wenn das tibetische Volk ihn wirklich benötige. Er könne sich auch vorstellen, dass dies seine letzte Inkarnation sei, sofern er die mit seiner Linie verbundenen Aufgaben erfüllt habe. Solche Verlautbarungen waren in der letzten Zeit nicht mehr zu hören, die Not des tibetischen Volkes wird angesichts der Unterdrückung immer größer. Der Dalai Lama hat sich auf eine neue Inkarnation im Exil festgelegt.

In Tibet ist diese Ankündigung mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Zwar wünschen sich hier alle das Staatsoberhaupt im eigenen Land. Gleichzeitig wissen die Tibeter aber, dass der Dalai Lama damit der chinesischen Führung ausgeliefert wäre. Daher sind die meisten auch erleichtert, dass er sich dem zu entziehen gedenkt.

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