wortwechsel: Frankreich rastet aus. Keine Hoffnung auf Frieden
Ein Polizist erschießt den unbewaffneten 17-jährigen Nahel in Nanterre bei einer Verkehrskontrolle. Wut und Verzweiflung über die Polizeigewalt lösen Aufstände im ganzen Land aus
Was treibt die Polizei?
„Kugel ins Herz“, taz vom 3. 7. 23
Ich habe Frankreich schon lange vor den Anschlägen gegen Charlie Hebdo als Polizeistaat bezeichnet. Das hat sich seitdem enorm verstärkt. Ein Großteil der französischen Polizeieinheiten sind dem Verteidigungsministerium unterstellt, paramilitärisch ausgestattet und werden für Bürgerkriegsauseinandersetzungen geschult. Ich habe mich vor mehr als 10 Jahren schon gefragt, warum Franzosen sich nicht gegen die Polizeigewalt wehren. Nun tun sie es! Brigitte Müller, Berlin
Warum muss der Nachbar erst fragen, ob ich von Aufständen in Frankreich gehört und gesehen habe? Wenn, dann nur am Rande, musste ich eingestehen. Es waren aber tatsächlich viel mehr als Aufstände, die nur eine Randmeldung wert sind. Warum wird über den 17. Juni 1953 seit mehr als 70 Jahren alljährlich als Massenaufstand und brutalste Niederschlagung in der DDR seitenlang emotional berichtet und nicht annähernd so intensiv über ein Nachbarland, das sich jetzt, ganz aktuell gegen Regierende erhebt in machtvollen Aufständen? Wie freiheitlich-demokratisch, objektiv, informativ sind unsere Medien in solchen wesentlichen Fragen und Themen, wie ungleich in ihrer Bewertung vor allem? Woran liegt das? Gibt es zweierlei Demokratie, Freiheit, Objektivität und Meinungsbildung? Roland Winkler, Aue
Die Medien haben bei den Gezi-Protesten in Istanbul über die Ereignisse live berichtet und den türkischen Staat im Namen der Demokratie scharf verurteilt. Sie stempelten danach den türkischen Präsidenten als Diktator ab, das ist bis heute so geblieben. Und was sagen sie bei staatlicher Gewalt und Brutalität in Frankreich, die nicht zum ersten Mal passiert (allein 2022: 13 Opfer der Polizei. 2023: bisher 3 Tote). Ist das alles demokratiekonform? Spielt struktureller Rassismus, neoliberaler Angriff auf die unteren Schichten der Gesellschaft insbesondere auf Migrantinnen dabei keine Rolle? Oder waren sie die reellen Ursachen dieses Aufstandes?
Anstatt diesen Konflikt im Dialog zu lösen, fordert der französische Staat mehr Polizei, mehr Repression, mehr Unterdrückung. Panzer auf den Straßen. Sogar die Armee kommt zum Einsatz.
Arslan Yılmaz, Berlin
Zu Verlierern gemacht?
„Nanterre: Frankreich tut weh“,
taz vom 29. 6. 23
Die Probleme bleiben: mangelnde Bildung und Bildungschancen (der erschossene Jugendliche war Schulabbrecher) und damit kaum Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, bei gleichzeitiger Orientierung an materiellen Werten und Statussymbolen wie eben teuren Autos. Und: Drogen. Und diese Probleme gibt es bei uns auch.
Leandram auf taz.de
Dass selbst der rechtextreme Gérald Darmanin, der Marine Le Pen in einer Debatte vorwarf, sie sei zu soft gegenüber der Einwanderung, jetzt Polizeigewalt zugeben muss, zeigt, wie riesig der unsichtbare Eisberg ist. Marmotte 27 auf taz.de
Ich will eine Polizei, bei der jede*r PolizistIn klar ist, dass es nicht okay ist, einen Menschen wegen eines Verkehrsdelikts zu erschießen. Ich will eine Polizei, die bereit ist, solche Fehler ehrlich aufzuarbeiten, nicht wegen der Strafe, sondern damit sie nicht mehr passieren – anstatt sich aus falsch verstandenem Korpsgeist auf allen Ebenen gegen die Aufarbeitung zu sperren. Ist das, verdammt noch mal, zu viel verlangt? Tomás Zerolo
Es wird oft vom „Tod eines unschuldigen Jugendlichen“ geschrieben. Ich denke, der tote Junge hatte, auch wenn er nicht „unschuldig“ gewesen wäre, einen Anspruch darauf, kein Opfer der Polizei zu werden.
Volker Scheunert
Deutsche Polizeigewalt
„Die Polizei will Furcht einflößen“,
taz vom 3. 7. 23
Die Älteren unter den taz Lesenden erinnern sich noch gut an die 1970er Jahre, als während der RAF-Zeit die Polizei schneller zur Schusswaffe griff. Dabei kam 1972 auch der 17-jährige Richard Epple bei einer Verkehrskontrolle ums Leben, nach dem noch heute das selbst verwaltete Jugendzentrum in Tübingen benannt ist.
Werner Miehle-Fregin
Nur Gewalt wird gehört?
„Sie haben keine Wahl. Die gewalttätigen Proteste in Frankreich waren eine Reaktion auf die gewalttätige Polizei, die einen 17-Jährigen erschoss. Die Eskalation ist für die Jugendlichen, der einzige Weg, um gehört zu werden“, taz vom 4. 7. 23
C‘est vrai, c‘est vrai, Monsieur Amjahid. Solange das Gesetz von 2017 (zur Waffenanwendung der Polizei) nicht vom Tisch ist, wird sich nichts ändern. Insbesondere als Jugendlicher kann man fast nur unter Lebensgefahr auf die Straße gehen.
„Sie haben keine Wahl“ – der Rassismus ist nicht nur bei der Polizei omnipräsent. Willi Müller alias Jupp Schmitz auf taz.de
Ihr Artikel über das brennende Frankreich empört mich zutiefst! Diese Randalierer sind Kriminelle, nichts anderes! Jeder Mensch hat die Wahl!
Und ja, auch Verkehrspolizisten brauchen bei solchen Typen Waffen, sonst sind sie es, die beim nächsten Mal sterben!
Brisca Sobat, Staufenberg
Die massive Zerstörung und Plünderung hunderter Geschäfte, Angriffe auf Rathäuser, Schulen, Banken, das Abfackeln von Pkws – das ist blinde Gewalt, die (den Steuerzahler) mindestens 200 Millionen Euro kosten werden (nach France 2). Der französische Staat hat in den letzten Jahren viel Geld in die ‚quartiers chauds‘ investiert, allerdings nicht ausreichend. Auch der permanente Rassismus ist ein Problem.
Das französische Polizeisystem muss grundsätzlich erneuert werden. In Deutschland dauert die Ausbildung von PolizeianwärterInnen drei Jahre, in Frankreich knapp ein Jahr. Übrigens: Eine von einem Rechten initiierte Spendensammlung für den Polizisten, der den Jungen erschossen hat, hat eine Million Euro ergeben! Die Spenden für die Mutter des getöteten Jungen ergaben 160 000 Euro.
Thomas Kniep
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