Gerangel um ABC-Schützen

Vertreter von Grundschulen lehnen die Pläne von CDU und FDP ab, die Schulbezirke aufzulösen. Sie befürchten einen „Schulbustourismus“ und Ghettos für MigrantInnen. „Chaos ist vorprogrammiert“

VON NATALIE WIESMANN

GrundschullehrerInnen in Nordrhein-Westfalen fühlen sich von den Reformplänen der neuen CDU/FDP-Landesregierung überrannt. Sie lehnen es ab, den Wettbewerbsgedanken bereits in den Grundschulen zu verankern – die Koalitionspartner haben sich in den laufenden Verhandlungen unter anderem darauf geeinigt, Schulbezirke aufzulösen und ein Ranking der Grundschulen einzuführen.

„Es macht überhaupt keinen Sinn, die Kinder aus ihrem Wohnumfeld zu reißen“, sagt Baldur Bertling, Leiter einer Dinslakener Grundschule und stellvertretender Vorsitzender des Grundschulverbands (GSV) in Nordrhein-Westfalen. Für die Entwicklung der Kinder sei es wichtig, dass sie lernten, den Weg nach Hause allein zu beschreiten und sich auf dem Heimweg mit Klassenkameraden auszutauschen.

Auch organisatorisch stelle die freie Schulwahl ein Riesenproblem da, so Bertling, vor allem in Zusammenhang mit dem ankündigten Ranking: „Das Chaos ist vorprogrammiert.“ Seine Schule zum Beispiel genieße in der Stadt einen guten Ruf. Wenn sich jetzt drei Mal so viele SchülerInnen bewerben würden als sonst, hätte er dafür keine Kapazitäten. „Soll ich dann die ersten hundert nehmen? Oder die Kinder von Eltern, die schon im Förderverein sind?“, fragt er sich.

Kritisch hatten sich Ende vergangener Woche auch die Gewerkschaften VBE und GEW zu den Plänen der neuen Landesregierung geäußert. Der Plan, die Schulbezirke in NRW abzuschaffen, würde zu Unrecht als mehr Entscheidungsfreiheit für die Eltern verkauft, sagte Udo Beckmann, Vorsitzender des VBE. „In Wirklichkeit wird dieses Konzept aber zur Ghettoisierung von Migrantenkindern und zu verstärktem Schulbustourismus schon für fünf- beziehungsweise sechsjährige Kinder führen.“

Dass die Aufhebung von Schulbezirken in Zusammenhang mit den geplanten Ranking-Listen zu einer noch stärkeren sozialen Differenzierung führen wird, glaubt auch Andreas Meyer-Lauber, Vorsitzender der GEW in Nordrhein-Westfalen. „Wenn wir ernsthaft Chancengleichheit wollen, müssen wir alle Grundschulen besser ausstatten und keinen Wettbewerb zwischen ihnen ausrufen“, so Meyer-Lauber zur taz.

Schon heute sei es möglich, dass Eltern, die ihre Kinder auf konfessionelle Schulen schicken wollten, von der Bindung an den Schulort ausgenommen würden – das betrifft etwa ein Viertel der GrundschülerInnen in NRW. Eine völlige Aufhebung der Schulbezirke führe zu noch mehr Frustration bei den Eltern, die nicht die Möglichkeit hätten, ihre Kinder durch die Gegend zu karren, sagt Meyer-Lauber. „Man muss sich ernsthaft fragen, wer die Koalition in diesen Fragen berät, das meiste ist nicht realisierbar“, sagt Meyer-Lauber.

Mit der Freiheit der Schulwahl hat sich die FDP in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU durchgesetzt. Die Union hatte noch im Wahlkampf angekündigt, die Zahl der Migranten auf den Grundschulen auf ein Viertel zu beschränken „Das war mit uns nicht machbar“, sagt Ralf Witzel, bildungspolitischer Sprecher der FDP. „Wir wollen eine freie Wettbewerbslandschaft unter den Grundschulen“.

Ein weiterer Plan, die Kinder für die Marktwirtschaft fit zu machen, ist die Senkung des Einschulungsalters auf fünf Jahre und die Einführung einer Fremdsprache in der ersten Klasse. Grundschulleiter Bertling lehnt das ab: „Schon heute haben 40 Prozent der ErstklässlerInnen Sprachprobleme“, sagt er. Dies sei nicht allein ein Problem bei Migrantenkindern, die zu Hause kein Deutsch lernten. „Das liegt vor allem daran, dass die meisten Kinder ihre ersten sechs Lebensjahre vor dem Fernseher verbringen.“ Erst wenn die Kinder ihre Muttersprache richtig beherrschten, sei es angebracht, über eine weitere Sprache nachzudenken. „Alles in allem sind die Reformpläne der neuen Regierung ein Schlag ins Gesicht der Grundschulpädagogen“, sagt Bertling. Er erwarte, dass der neue Schulminister oder die neue Schulministerin vor der Umsetzung ihrer Ideen das Gespräch mit den LehrerInnen suchen werde. „Bisher weiß man ja nicht einmal, wer das Ressort übernimmt.“