kritik der woche
: Thomas Manns gesegnete Verdauung

Katia, Arnold, Peter. Katia von oben, Arnold von links, Peter von rechts. Katia spricht über Thomas, Arnold und Peter auch. Arnold ist Arnold Zweig. Peter ist Peter Rühmkorf. Thomas ist Thomas Mann, der am 6. Juni 130 Jahre alt geworden wäre. Und Katia ist natürlich seine Frau.

Die Stimmen kommen aus Lautsprechern, erst kaum hörbar. Dann lauter. Immer näher und trotzdem fern. Man muss genau unter dem Brett stehen, auf dem „Katia Mann“ geschrieben steht, um ihre Worte zu verstehen. Sie erzählt von ihrer ersten Begegnung mit Thomas, ihrem späteren Mann. “Ich kenne ihn von Siegen“, hört man sie sagen. Das Brett mit dem aufgeschraubten Lautsprecher nennt sich Hördusche hängt an einem Faden von der gotische Decke der Lübecker Katharinenkirche. Das Buddenbrookhaus zeigt hier „Das zweite Leben – Thomas Mann 1955-2005“ – an einem Ort, den wohl auch die Hauptperson oft besuchte, wohl eher: besuchen musste. Thomas Mann war Schüler am benachbarten Katharineum, ein schlechter wohlgemerkt. Er blieb drei Mal sitzen.

Die Stimmen der Kollegen Arnold Zweig und Peter Rühmkorf kommen aus durchsichtigen Hartplastikzylindern zum Anheben. Die stecken in einem weiteren, etwas breiteren Zylinder. Zwölf solcher Hörstelen stehen im Hauptschiff und im Chor. Sie sehen raffiniert aus, doch die Stimmen klingen wie aus der Dose.

„Das zweite Leben: Thomas Mann“ ist keine willkürliche Aneinanderreihung von Devotionalien. Wir sehen keine Zigarrenstummel aus seinem Nachlass, nicht den Federhalter, mit dem er den Zauberberg schrieb. Die Ausstellung, die noch bis 31. Oktober läuft, verzichtet auf billige Effekte. Vielmehr dokumentiert sie in Ton, Bild und – sehr, sehr viel – Text die Wirkung des Nobelpreisträgers: vor und nach seinem Tod – und vor und nach der Veröffentlichung seiner Tagebücher, die 20 Jahre gut verschnürt im Archiv gelagert erst 1975 geöffnet wurden. So wie Thomas Mann es verfügt hatte.

Die Ausstellung ist keine Hurra-Veranstaltung zu Geburts- und Todestag. Sie feiert Thomas Mann nicht blind als bedeutendsten deutschen Dichter seit Goethe. Sie versammelt allerlei Kritik. Das macht sie so sehenswert: Am prominentesten Ort, auf dem Altar der Katharinenkirche, liegt der letzte Band der Tagebücher. Als die veröffentlicht wurden, war die Geisteswelt erschüttert: Thomas Mann stand auf junge Männer mit dunklen Augen; er war ein herrischer Ehemann und Vater; und er machte sich mehr Gedanken über seine Verdauung als über das geteilte Deutschland. Herrje! Christina Stefanescu

Das zweite Leben – Thomas Mann 1955-2005, Katharinenkirche, Lübeck, tägl. 10-18 Uhr, bis 31. 10.