berliner szenen: Schock an der Universität
Als ich vor 25 Jahren mein Studium abschloss, informierte ein Zettel an der Unibibliothek: „Hier können Sie ab sofort ins World Wide Web.“ Ich war mir nicht sicher, ob mich das betreffen könnte. Mein Sprachstudium absolvierte ich mit Ringblöcken, Pappheftern, Grammatik und Wörterbuch. Ab und zu ging ich ins Sprachlabor oder sah einen OmU-Film im Kino. In den Ferien machte ich Sprachkurse im Ausland. Bei vielen Seminaren gab es Anwesenheitspflicht. Über Fristen und Termine informierten Aushänge.
Seit zwei Semestern bin ich wieder an meinem alten Institut und lerne Ukrainisch. Es ist ein Kulturschock. Die Unterrichtsmaterialien werden zwei Tage vor dem Kurs auf eine Online-Plattform gestellt. Hausaufgaben müssen „hochgeladen“ werden. Kurse, Fristen und Termine kann man online einsehen. Obwohl der Kurs in Präsenz stattfindet, erscheinen viele meiner Kommiliton*innen nur sporadisch. Montags kommen andere Leute als freitags.
Viele schlagen kommentarlos erst eine Stunde nach Seminarbeginn auf. Oder kurz vor Schluss. Sie klappen ihre Tablets auf und tippen pausenlos. Was mich irritiert, denn es geht vor allem ums Sprechen. Und alles steht auch vorne am Smartboard. Manche kommen ohne alles. Oder nur mit Handy. Sie stellen kaum Fragen. Eigene Antworten checken sie vorher online. Hausaufgaben laden nur wenige hoch. Ich wundere mich, warum sie in diesem Kurs sind. Vermutlich brauchen sie das „Modul“ für ihren Abschluss. Ob sie „Wissen“ erwerben, scheint nebensächlich.
In der ersten Ferienwoche ist die mündliche Abschlussprüfung. Plötzlich ist die Aufregung groß. Denn „30 Minuten sprechen, das schaff ich nicht“, wie einer sagt. Eine andere fragt: „Warum haben Sie das nicht früher gesagt? Das kann ich jetzt leider gar nicht, sorry.“ Gaby Coldewey
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