Theaterstück über Klassismus: Lieber nicht darüber reden
„Juices“ am Nationaltheater Mannheim ist ein imposanter Text über Klassismus. Er offenbart das menschliche Gesicht hinter dem Politischen.
Hängen und immer wieder hängen, direkt über dem freien Fall – mit diesen Ängsten muss das Ich in Ewe Benbeneks neuem Stück „Juices“ leben. Denn wenn es einmal hinabstürzt, wird es von keinem Netz aufgefangen. Es kennt nur das „Unten, wo dann nichts ist“, von früher – als es mit seinen Eltern von Polen nach Deutschland kam und die Mutter putzen ging.
Tief sitzen daher die Erfahrungen als Gastarbeiterkind, so tief, dass selbst die Sprache noch davon Wunden trägt. Wendungen wie „Tut sich ein Fenster aufmachen tun“, „ganz manchmal“ oder „es drückt der Druck“ dokumentieren: Trotz Aufstieg zeigen sich die unleugbaren Spuren der nichtdeutschen Herkunft. Sich davon zu lösen, von der Scham der Armut, scheint unmöglich. Wir kreisen unentwegt um Anfänge und Erinnerungen, dieselben Worte und Halbsätze.
Da es in dieser Welt keinen sicheren Anker gibt, hat die Regisseurin der Uraufführung am Nationaltheater Mannheim auf ein klar konturiertes Subjekt verzichtet. Stattdessen teilt Kamila Polívková die Rede auf drei Frauenfiguren (Maria Munkert, Antoinette Ullrich, Rahel Weiss) auf. Sie sind auf der Suche, nach der Vergangenheit wie nach sich selbst. Dem Raum, in dem sie sich befinden, lässt sich nämlich zunächst noch keine Geschichte abringen. Wir blicken auf eine graue Leinwand auf einem schwarzen, von Streben gehaltenen Bretterboden.
Alles ist in dieser Leere fern, aber auch möglich. So zum Beispiel eine Badeorgie, dargestellt mit einem Eimer, in dessen Wasser die Protagonistinnen massenweise Reinigungsmittel kippen. Gespielt wird mit dem Schaumbad als Luxus-Happening. Während man sich ihn nun leisten kann, musste die Mutter früher die Bäder der Wohlstandsschicht reinigen. Und so mutet es nur konsequent an, dass diese Momentaufnahme von der Euphorie in die Melancholie kippt.
Schaumbad als Luxus-Happening
Von den Kurzzeitekstatikerinnen bleibt eine den Boden schrubbende Putzkraft übrig. Deren trister, von ökonomischer Ausbeutung geprägter Kosmos begegnet uns auch in einer zweiten Szene wieder. Nun spielt sich das Geschehen unterhalb des Parketts ab. Gebückt filmt dort eine Schauspielerin Gegenstände eines Großraumbüros.
Derweil berichtet eine andere von den Tagen, als die Mutter ihre Tochter zum Putzen zu jenen Nicht-Orten mitnahm. Spätestens mit dieser Anordnung wird die Zweiteilung des Daseins erkennbar. Oben residieren die Gutsituierten, unten darben die Abgehängten. Trotz dieser klaren Ordnung taumelt das Ich noch immer. Im Hintergrund vernimmt es nur Tropfgeräusche aus einer Höhle, ohne Licht und Ausgang.
Mit derlei Bildern setzt die Regie präzise Akzente, verhilft dem Text zu einer wuchtigen Präsenz, dessen mitreißender Fluss aus Traumata, Hoffnungen und Illusionen ansonsten kaum einen Halt zulässt. Er hat seinen Ursprung im derzeit mehr und mehr die deutschen Bühnen erfassenden Diskurs um Klassismus und soziale Ungerechtigkeit, reiht sich ein neben Christian Barons „Ein Mann seiner Klasse“ oder Anna Gschnitzers „Einfache Leute“.
Nichts Didaktisches
Obwohl in diesen Beispielen inklusive Benbeneks Entwurf viel Autobiografie steckt, ragt Letzterer doch aus dieser Riege hervor, eben ob seiner enormen sprachästhetischen Gewalt, die die 1985 geborene Dramatikerin bereits in ihrem ebenfalls den familiären Migrationshintergrund beleuchtenden Stück „Tragödienbastard“ an den Tag legt. Zu Recht wurde sie dafür 2021 mit dem Mülheimer Theaterpreis prämiert.
Eine Ausnahmeerscheinung? In den Künsten durchaus. Im sozialen Sinne hingegen ein von Zahlreichen geteiltes Schicksal. Insbesondere diese Beobachtung kennzeichnet den sehr politischen Schluss des Abends. Zunächst setzen sich die drei Akteurinnen direkt vor das Publikum und erzählen, worüber „sie nicht so gern [spricht], die BRD“.
Etwa von all den Ungehörten aus dem Osten Europas, die einst ihren Anteil an der Entstehung des deutschen Wirtschaftswunders einbrachten. Die Kritik an der verdrängenden Mehrheitsgesellschaft scheint im Schatten eines kontrovers diskutierten, europäischen Flüchtlings- und Asylabkommens virulenter denn je. Dass die jüngsten Beschlüsse vermeintlich im Nebulösen verhandelnder Politiker uns alle und im Speziellen unzählige Menschen hinter sterilen Statistiken betreffen, machen die Protagonistinnen am Ende deutlich, indem sie die Bühne verlassen und sich ins Publikum setzen.
Diesem Move haftet nichts Didaktisches an, er geht organisch aus einem Werdegang hervor. Die Abstraktion von Für und Wider von Migration verdichtet sich hier in einer konkreten Autorinnenexistenz zwischen Entwurzelung und schließlich beachtlicher Emanzipation. Um diese Entwicklung in Kunst zu übersetzen, ohne die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren, bedarf es eines genauen Gespürs. Das Nationaltheater stellt es unter Beweis, mit einem Vibrato, das zutiefst bewegt!
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