berliner szenen: Nichts als ein Pass-Alter
Kurz nach 23 Uhr in einer Charlottenburger Kneipe. Ein Mann und eine Frau setzen sich an den letzten freien Tisch. Die Frau bittet um ein Radler, der Mann versucht, noch warmes Essen zu bekommen, doch die Küche hat gerade geschlossen. Er bestellt ein Glas Burgunder. Die beiden sitzen eng nebeneinander und reden über Beziehungen. Er schwärmt ihr vor, wie niedlich seine Exfreundin in seinem Schlafanzug ausgesehen habe, und macht dabei den Gang seiner Ex nach.
Ein Glas später erklärt er, dass das Daten in der DDR einfacher gewesen sei, da die Frauen deutlich gezeigt hätten, wenn sie interessiert seien. Und ein weiteres Glas später, dass er sich nichts Romantischeres vorstellen könne, als gemeinsam im hohen Alter Hand in Hand aus der Koje einer kleinen Kajüte aufs Meer zu blicken.
Die Bedienung, ein Mädchen von höchstens 20, bringt ihm ein Chili: „Der Koch hat eine Ausnahme gemacht.“ Als das Mädchen weg ist, meint der Mann zu der Frau: „Charmant. Und ein hübsches Gesicht.“ Die beiden unterhalten sich weiter. Während der Mann isst, verfolgt er mit seinen Blicken die Kellnerin. Und erzählt, neulich habe ihn eine 19-Jährige angesprochen: „Die war dann perplex, wie alt ich bin.“ Die Frau fragt, wie alt er denn sei. Bei seiner Antwort hält sie sichtbar den Atem an. Er grinst: „Nichts als ein Pass-Alter.“
Nachdem der Mann das Aussehen der Kellnerin ein weiteres Mal kommentiert, meint die Frau: „Dir ist aber bewusst, dass sie deine Tochter sein könnte, oder?“ Er fragt verwundert: „Klang die Bemerkung für dich sexuell konnotiert? Ich wollte doch nur sagen, dass der Service gut ist.“ Die Frau lächelt angestrengt: „Und für den guten Service ist ihr Gesicht ausschlaggebend?“ Er errötet leicht: „Jetzt fühle ich mich ertappt.“
Eva-Lena Lörzer
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