berliner szenen
: Ein Rehkitz am Bach reicht nicht

Mit einem Freund sitze ich am Café-Tischchen in der Kantstraße. Voll ist’s. Wir umkreisen seine Schaffenskrise. Ein Gast nähert sich – und wir nehmen unsere Taschen vom letzten freien Stuhl. Er bestellt, hört uns beiläufig zu. Der Freund ist nach vielen Jahren Berlin vor geraumer Zeit aufs Land gezogen, einer launigen Eingebung folgend. Und hat seither keinen einzigen Pinselstrich mehr getan.

„Wundert mich gar nicht“, sagt der Gast nach einer Weile, sich ruckhaft in unser Gespräch einklinkend. „Ein Künstler auf dem Land.“ Er winkt ab. „Sie sind in die Wüste gezogen“, fährt er fort, „Ihr Talent verdorrt!“ Ich habe dem Freund soeben Franz Hessel zitiert und versucht, seine Stadtflucht positiv zu sehen. „Sie sind ein Tiger ohne Fleisch, Ihre Inspiration ist weg“, sagt er, und jetzt wechselt er zum Du und sieht mich an, „wenn du als normaler Mensch aufs Land ziehst, gut, ein kleiner Pflanzschock, das geht vorbei. Ein Rehkitz am Bach, blühender Baldrian“, sagt er, „alles schön, aber zu wenig für den Künstler! Nichts! Du“ – jetzt blickt er meinem Freund streng in die Augen – „du verdurstest. Das merkst du nicht gleich, Junge. Aber jetzt. Glaube mir. Ich hab’s selbst … Du bist blass, wo ist dein Blut geblieben? Wann bist du …?“ Mein Freund zupft sich am Bärtchen und sagt matt, tonlos fast, und ohne seine Lippen zu bewegen: „Vor einem Jahr.“

„Ah!“, triumphiert der Gast, „ein Jahr ohne Inspiration, Ekstase, ohne den Malstrom der Großstadt! Wie willst du deine Farben wiederfinden? Das geht nur hier. Du wirst dir sonst ein Ohr abschneiden …“

Wir verlassen zu zweit das Café, kaufen Wein im Späti. Damit tigern wir davon, sitzen lange auf den Stufen hinterm Bahnhof Bellevue. Später, in meiner Wohnküche, deute ich auf mein geblümtes, etwas separiertes Kanapee. Mit den Worten: „So lang du willst.“ Felix Primus