Entwicklung statt Wettbewerb

Nach dem doppelten Nein zur Europäischen Verfassung fordern 210 europäische Wirtschaftswissenschaftler eine neue ökonomische und soziale Strategie für die Union

BERLIN taz ■ Sie sehen es als zweite Chance: Das französische und niederländische Nein zur EU-Verfassung „öffnet ein Fenster“, heißt es in einem offenen Brief, den 210 Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler aus 21 europäischen Ländern gestern gemeinsam veröffentlicht haben. Mit dabei: der Bremer Professor Jörg Huffschmid, Jacques Mazier von der Universität Paris Nord sowie John Grahl von der Metropolitan University London.

Dass die Wähler die Zustimmung verweigert haben, habe nichts damit zu tun, dass sie nicht informiert gewesen seien, schreiben die Ökonomen. Es sei die Antwort auf ihre Erfahrungen mit der Europäischen Union: „Massenarbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche, zunehmende soziale Unsicherheit und mehr Ungleichheit“.

Kein Wunder, meinen die Wissenschaftler. In der Europäischen Union mangle es an einer „entschiedenen und wirksamen Beschäftigungspolitik“, die Arbeitsmarktpolitik sei, „Druck auf Arbeitslose auszuüben statt gute Arbeitsplätze zu schaffen“, und der „alles überlagernde Bezugsrahmen der Konkurrenz“ gebe privaten Profiten Vorrang vor den Sozialsystemen. In Kombination mit der Liberalisierung von Dienstleistungen – ohne soziale Mindeststandards und -löhne – schaffe das „ein Klima von Bedrohung und Unsicherheit“.

Als Sofortmaßnahme schlagen die Ökonomen ein koordiniertes Investitionsprogramm sämtlicher Mitgliedsstaaten in einem Volumen von gut einem Prozent des EU-BIP vor. Mit diesen rund 96 Milliarden Euro, die über die Europäische Investitionsbank finanziert werden könnten, lasse sich die öffentliche Infrastruktur ausbauen und technologische Forschung intensivieren. Außerdem könne das Geld in ökologische Projekte fließen. Zusätzlich fordern die Experten, in den kommenden zwei Jahren 5 Prozent mehr Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor und eine Erhöhung des EU-Haushalts auf ein Volumen von 140 Milliarden Euro.

Auf Dauer aber, heißt es in dem Brief, brauche der europäische Prozess einen deutlichen Politikwechsel mit einem „beschäftigungsfreundlichen makroökonomischen Rahmen“, in dem sowohl die Finanzpolitik als auch die Geldpolitik ihre Möglichkeiten ausschöpfen können. Dazu gehöre eine Steuerpolitik, die den Wettlauf um die niedrigsten Abgaben beende – als Mindestsatz für die Unternehmenssteuer empfehlen die Ökonomen 40 Prozent, in Ländern, die wirtschaftlich weit unter dem EU-Durchschnitt agieren, 30 Prozent. BEATE WILLMS