berliner szenen
: Ein Wolf im Schafspelz?

Einen Komondor mitten in Berlin hab ich noch nie gesehen. Gestern aber. Ein Riesenexemplar dieser einst vom Adel geliebten Hunde war mit seinem Herrchen in Charlottenburg unterwegs. Sein bodenlanges Zottelfell wallte und wogte, und da es regnete, wogte es beträchtlich. Das unterste Drittel des weißen Hundes war in Abstufungen regenbraun eingefärbt. Dichte Zotteln verdeckten seine Augen und flossen wie verfilzte Schnüre am Körper herab. Sie kaschierten so wirkungsvoll alle hündischen Konturen, dass ich zuerst nicht gewusst hatte, um was es sich hier handelt: um ein Schaf, um einen Wolf im Schafspelz, um eine Zirkusattrappe, in der ein, zwei Akrobaten stecken, oder um einen kabellosen Wischroboter in Tieroptik. Sein Herrchen trug Dreadlocks, schwarze Lederkombi, Stiefel. Alles schwarz. Tapfer und stolz steuerte das Gespann im Regen zur nächsten Kreuzung der Stülpnagelstraße.

Zeitgleich kam eine Passantin ums Eck vis à vis. Aus ihrem knappen Lederjäckchen lugte ein Nackthund im Format einer Minihandtasche. Die Spitzen ihrer langen Haare erreichten, ja bedeckten sogar teilweise die zartrosa Haut des Hundes, ein zusätzlicher Dutt verlieh ihrem Look etwas bedingt Feierliches. Als sie die beiden schweren Jungs erspähte, legte sie ihrem Winzling schützend eine Hand übers Köpfchen und blieb angstvoll stehen. Der kleine Hund blickte derweil aber lässig auf seinen felligen Bruder herab, der fünfzigmal mehr wog als er selbst: keck schaute er drein, mit seinem Schopf – allen überlegen, auch seinem Frauchen.

Niemand sonst war in diesen Minuten unterwegs. Wie immer schalt ich mich später, nichts fotografiert zu haben. Und verzieh's mir wieder, denn so war mir nichts, nichts von dieser Szene entgangen. Ein Momentchen Berlin, unverstellt.

Felix Primus