die taz vor 13 jahren: deutsche einheit und brandenburger demokratie
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Der Streit um die Finanzierung der deutschen Einheit droht zunehmend in eine psychologische und kulturelle Dynamik zu geraten, die ihn unlösbar machen kann. Es geht nicht mehr nur um Besitzstandswahrung auf der einen, Sozialverteidigung auf der anderen Seite. Es geht um die Verdichtung von Ressentiments, darum, daß wir einem Gemütszustand anheimzufallen beginnen, den der ungarische Soziologe István Bibó mit dem Begriff „deutsche Hysterie“ gekennzeichnet hat. Damit meinte er das Versagen der deutschen Führungsschichten, die anstehenden historischen Aufgaben zu meistern und die daraus resultierenden kollektiven psychotischen Einstellungen.

„Wir waren arm, aber solidarisch.“ Das ist der Stoff, aus dem die bösen Träume sind. Nachträglich wird eine Gesellschaft erzwungener Gemeinsamkeit, die doch in ihrem Alltag vom Kampf aller gegen alle, von den lebensnotwendigen Beziehungsnetzen, von Ausgrenzung und Isolation bestimmt war, zu einem idyllischen Ort umgelogen. Vergeblich mahnen Aktivisten der Bürgerbewegung des Jahres 1989, wie Wolfgang Templin, den Staub der DDR abzuschütteln. „Ihr müßt euch ändern“, rufen sie den Wessis zu, „und wir müssen es auch.“

Trostloserweise gerät jetzt auch ein Projekt in den Strudel des neuen ostdeutschen Abgrenzungswahns, das ein besseres Schicksal verdient hätte: die soeben beschlossene Verfassung des Landes Brandenburg. Seinem ganzen Charakter nach ist dieses Dokument nicht fürs Einigeln und Abschotten gemacht. Die brandenburgische Verfassung kann neue Formen der Bürgerbeteiligung auf den Weg bringen, die Wahrnehmung neuer Individualrechte ermöglichen, eine ökologische Gesetzgebung decken.

Mit einem Wort: Sie kann einer linken und demokratischen Politik in Deutschland einen neuen Anstoß geben. Nur: Sie muß von ihren Initiatoren auch so verstanden werden!

Christian Semler, 16. Juni 1992