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Das Publikum war seltsam, aber freundlich bei der Langen Buchnacht auf der Kreuzberger OranienstrasseDeformierte Lesende, endlich mal in Gesellschaft

Von René Hamann

Der eine verirrte sich in eine fremde Wohnung, der andere verlor seinen Fahrradschlüssel, der Samstag stand unter dem Zeichen allgemeiner Verwirrung. Vielleicht waren die Horden schuld, die wahlweise das „Hofbräuhaus München Berlin“ oder die noch nicht fertig gebaute DAB- respektive Union-Bierhalle in der Nähe des Alexanderplatzes besetzten, um sich aufs Pokalfinale einzustimmen. Eine heiße Nacht in Berlin sollte es werden, auch wenn die Temperaturen das Gegenteil behaupteten.

Ich meine, in welcher anderen Stadt erlebt man Temperaturstürze von 20 Grad innerhalb von zwölf Stunden? Das war in etwa, als sei man versehentlich nach Reykjavík geflogen, obwohl man eben noch in Madrid war. Wir blieben im gemäßigten Wohnzimmer hocken und schauten das Spiel dann da. Und erst, als das „Aktuelle Sportstudio“ sich in besagte Union-Bierhalle verwandelt zu haben schien, in schwarz-gelbes Fanfernsehen, trauten wir uns in Winterjacken nach draußen, entweder ins Neuköllner „O Tannenbaum“, wo es ein Konzert von unbekannten Bands gab, oder nebenan auf die Oranienstraße, schließlich gab es da die „14. Lange Buchnacht“.

Auf dem Weg beurteilten wir noch die einschlägigen Kneipen vor Ort: Hier hatten sich drei der finstersten Spelunken dieser Stadt schon über Jahrzehnte behauptet und würden das, wie es aussah, auch weiterhin tun: der Jodelkeller, der Trinkteufel, die Rote Rose. Neu war der Laden, der „den ersten Obst-Döner“ Berlins feil- und kaum noch Platz für noch mehr hormonell verwirrte Teeniegirls bot, die sich hier mit ordentlich wuchtigen Kalorienbomben die noch nicht ausgewachsene Figur ruinieren wollten, und das „Chez Michel“, von meinen bayerischen Freunden „Chemisch hell“ gesprochen, der feine Franzose für die Bobos aus dem Prekariat, die Lebefrauen und -männer mit dem kleinen Geld und der coolen Selbstständigkeit auf dem langen Weg von Mitte nach Neukölln.

Im Max & Moritz endlich war es voll und laut, was zu erwarten war. Als ich mich auf eine Ecke des charmanten Büchertischs platzierte, flüsterte vorne bereits ein Autor namens Akos Doma ins Mikrofon, und dem gelegentlichen Gekicher nach schien das ganz lustig zu sein, was er da las. War es dann auch, obwohl ich schon kurz darauf komplett vergessen hatte, um was es ging.

Immer noch besser als Lyrik & Queer Tango, dachte ich beim Studieren des Programms, diese seltsame Mischung gab es nämlich auch an diesem Abend. Das Publikum war seltsam, aber freundlich. Deformierte Lesende, glücklich, weil endlich mal in Gesellschaft. Nach Mitternacht war der Freund meiner Nachbarin dran. Die Nachbarin war natürlich auch gekommen, sie hatte sich extra schick gemacht. Die andere Nachbarin, also die, in deren Wohnung einer meiner Fußballguckfreunde ein paar Stunden zuvor versehentlich reingeschneit war, war auch da. Man unterhielt sich über Beziehungen, die mit dem Phänomen des Elektrostalkings zu Ende gingen, also dem SMS-, Mails- und Statusmeldungsmitlesen.

Der als schwierig geltende Autor, der Freund meiner Nachbarin, wirkte nervös, aber beflissen und las danach unakzentuiert, aber angenehm unprätentiös aus seinem Buch vor, während von den Decken her ein Rauschen kam, als ob der schöne, alte Saal des Restaurants – auf dem Weg zur Lesung hatte man an spachtelnden Gästen und ihren dampfenden Mahlzeiten vorbeigemusst – zehn Meter unter dem Meeresboden liegen würde, irgendwo in der Nähe von Reykjavík.

Der Tag ging danach mit Bier und Schokolade zu Ende; nur, dass mir im Traum der Laptop geklaut wurde, obwohl ich ihn noch dringend fürs Abi brauchte, das war dann auch noch seltsam.

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