berliner szenen: In der U3 mit Sartres „Der Ekel“
Die Leute in der U3 checkten Mails, spielten Jelly Splash, tinderten, dösten vor sich hin, träumten. Von anderen Dingen als denen, die sie erwarteten. Ein junger Mann nahe der Wagontür hielt sich ein Tablet ans Ohr. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Deckel mit Schirm, auf dem eine schwarze Acht in einem weißen Kreis genäht war. Er skypte. Wörter wie Jobcenter, Schwerbehindertenausweis und Festanstellung fielen. Neben mir saß ein Mann mit einem Jutebeutel, auf dem das Standbild einer Darmspiegelung abgebildet war, was sich bei genauerem Hinschauen als QR-Code herausstellte.
In etwa fünf Meter Entfernung hielt sich eine politische Assistentin mit über die Schulter baumelnder Tasche von Supreme mit der linken Hand an der Haltestange fest und las in einer aus der Stadtbibliothek geliehenen Ausgabe „Der Ekel“ von Sartre. Das bahntypische Ruckeln schien ihr nichts auszumachen; unbeeindruckt balancierte sie Tasche und das in einer Klarsichthülle steckende Buch aus. Ich kannte sie. Natürlich. Ich kannte sie gut. Sie war schwanger. Wie üblich war sie stark geschminkt: Mascara, dunkler Lippenstift.
Als sie mir eröffnet hatte, dass sie schwanger war, was drei Monate her war, leuchteten ihre Augen blau in das schummerige Licht einer rauchfreien Bar hinein, blau und gnadenlos wie ein schwerer Drink, aber getrunken oder geraucht wurde nicht mehr, und an der Vaterschaft ließ sie keinen Zweifel. Also an der ihres Manns. Es war gut und richtig so, sie hatte Sicherheiten gewollt, sie wollte in einer postmodernen Wohnanlage von Babygeschrei geweckt werden, während draußen die Rasenmähroboter ihre ersten Runden drehten. Danach, nach diesem letzten Treffen, wurde sie unsichtbar. Und jetzt war sie eine Frau in einer cremefarbenen Winterjacke, die in der U-Bahn Sartre las. René Hamann
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