„Die politische Mitte droht zu verschwinden“

Die CDU darf als Regierungspartei nicht zum Bauchredner des Arbeitgeberlagers werden. Denn wenn der Sozialstaat weiter abgebaut wird, kann auch das überaus stabile deutsche Parteiensystem aus den Fugen geraten

taz: Angela Merkel will alle Bremsklötze gegen Wachstum „niederwalzen“. Wird die CDU nach der Wahl den Sozialstaat schleifen – oder wird es doch nicht so schlimm?

Norbert Blüm: Ich hoffe, dass der Begriff der Mitte nicht nur Marketing ist, sondern das, was er für die CDU immer sein sollte: ein Platz der Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Ansprüchen. Die Union muss begreifen: Ohne Sozialstaat gibt es keine Marktwirtschaft.

Zumindest den Kündigungsschutz würde Edmund Stoiber schon gerne lockern.

Das wird viel zu einseitig diskutiert. Der Kündigungsschutz ist ein Vertrauensschutz für beide Seiten. In den USA verlässt ein wichtiger Arbeiter am Freitag mit einem fröhlichen Bye-bye! den Betrieb und ist am Montag bei der Konkurrenz.

Die CDU will außerdem, dass für die Arbeitnehmer gilt: Abfindung statt Kündigungsschutz. Ist das sinnvoll?

Es ist weltfremd, wenn man mit einem Mitarbeiter über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses spricht, bevor er nur einen Handschlag getan hat. Standesbeamte fragen vor der Trauung auch nicht, wie denn die Ehe geschieden werden soll. Hinzu kommt: Jeder kleine Handwerksmeister müsste für Abfindungen teure Rückstellungen bilden.

Die FDP, der potenzielle Koalitionspartner der Union, sieht die Gewerkschaften als Grundübel und will die Tarifautonomie aufweichen …

Die FDP ist in vielen Punkten konsequenter und asozialer als die CDU. Deren Vorstellung kann man auf die Pointe „Tarifverträge nur noch auf Betriebsebene“ bringen. Das hieße aber, dass die Betriebsräte ein Streikrecht bekommen müssten – und die brauchen nur noch Knotenpunkte der Wirtschaft bestreiken. Kein Paragraf schützt dann die Bundesanstalt für Arbeit vor den Folgekosten in Form von Arbeitslosengeld. Außerdem führt ohne Tarifautonomie kein Weg an einem Mindestlohn vorbei – bei Hungerlöhnen sind auch arbeitende Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Da ziehe ich den Tarifvertrag vor.

Vom Mindestlohn hält Ihre Partei aber wenig. Vorfahrt für Arbeit klingt eher wie Vorfahrt für jede Art von Arbeit.

Diesen Slogan muss die CDU erklären. Es könnte ja auch Kinderarbeit gemeint sein – die ist ebenfalls billig. Es wird vergessen, dass Arbeit auch etwas mit Sinn zu tun haben muss.

Können es sich Arbeitnehmer denn momentan leisten, Sinn einzufordern?

Die Arbeitnehmerbewegung ist insgesamt geschwächt durch die Asymmetrie von global agierendem Kapital und lokal sesshaften Gewerkschaften. Die eigentliche Probe wird deshalb, ob wir es schaffen, Sozialstandards in Europa zu schaffen. Bislang beschränkt sich Europa nur auf Stabilitätspakt und Euro – damit kann man die Banken faszinieren, aber nicht die Herzen der Menschen erreichen. Mich wundert es nicht, dass die Franzosen und die Niederländer Nein zur Verfassung gesagt haben.

Das neue Linksbündnis vertritt fast identische Positionen – und könnte sich Norbert Blüm gut in seinen Reihen vorstellen.

Ich bin CDU-Mann und werde das auf meine alten Tage nicht ändern. Außerdem ist überhaupt nicht klar, wofür dieses Bündnis inhaltlich wirklich steht. Die können sich ja noch nicht einmal auf einen Namen einigen, geschweige denn auf einen Umgang mit der PDS-Vergangenheit.

Gysi und Lafontaine haben aber gute Wahlchancen. Warum?

Momentan sind alle etablierten Parteien vom neoliberalen Virus befallen. Ich hoffe, dass das vorbeirauschen wird wie die New Economy. Wenn die CDU jetzt aber in der Sozialpolitik Schröder hoch zwei macht, gerät unser Parteiensystem aus den Fugen. Denn die enttäuschten SPD-Wähler, die vielleicht im September CDU wählen, werden dann nicht mehr zurückpendeln. Entweder sie verschwinden im Loch der Nichtwähler, oder sie gehen woanders hin.

Was muss die CDU tun, um diese Wähler zu binden?

Die CDU darf sich nicht zum Bauchredner von Herrn Hundt machen. Das ist der einfallsloseste Arbeitgeberpräsident der Nachkriegszeit. Der Mann versteigert täglich den Sozialstaat, der besteht nur aus Wegfall. Statt Messdiener des Neoliberalismus zu sein, müssen sich die Arbeitnehmerorganisationen, die Sozialausschüsse, der christlich-soziale Flügel in der Union bemerkbar machen.

Glauben Sie wirklich, dass dieser Flügel noch gehört wird?

Was ist die Alternative? Das Parteiensystem hat keine Überlebensgarantie. Das hat das Bespiel Italien gezeigt: Dort war die kraftvolle Democrazia Cristiana über Nacht verschwunden. Deshalb muss klar sein, dass es jetzt nicht nur um Positionierung im Wahlkampf geht, sondern um das langfristige Überleben in der politischen Mitte. Nur dort überlebt eine Volkspartei CDU.

INTERVIEW: KLAUS JANSEN