Oberpirat mailt sich ab

PIRATEN Der umstrittene Landeschef Semken plaudert Interna aus und tritt zurück. Wer ihm folgt, entscheidet sich erst im Herbst. Der Landesverband streitet eine Krise ab

■ Nachfolger für den zurückgetretenen Hartmut Semken drängen sich bisher nicht auf. Vorgänger Gerhard Anger, der wegen „Überlastung“ im Februar nicht wieder angetreten war, sagte, er kandidiere höchstens für einen Vorstandsbeisitz.

■ Exkandidatin Katja Dathe teilte mit, sie stünde „eher nicht“ zur Verfügung. Vizelandeschefin Christiane Schinkel lässt eine Kandidatur bisher offen. Einzig Schatzmeister Enno Park sagte, er werde wohl für das Amt im September antreten. (ko)

VON KONRAD LITSCHKO

Der Auftritt dauert keine drei Minuten. Mit dem Motorrad fährt Hartmut Semken vor die Piraten-Geschäftsstelle am Nordbahnhof, schiebt sich durch die Reihen der rund 40 Piraten, die am Mittwochabend zur Krisensitzung erschienen sind, legt den Motorradhelm auf den Tisch. „Ich habe einen Fehler gemacht“, sagt Semken, sichtlich angespannt. „Ich habe den Vorstand belogen.“ Sein Rücktritt sei „die einzig denkbare Konsequenz“. Dann betont der 45-Jährige noch, unter welch „entsetzlichem Druck“ er die letzten Wochen gestanden habe – und fährt wieder.

Es ist ein abruptes Ende nach wochenlangen Querelen: Kein Applaus, nur ein Pirat klopft Semken auf die Schulter. Ein Ende, das zu seiner Amtszeit passt: Keine drei Monate war der IT-Spezialist Landeschef.

Eine E-Mail hatte Semken letztlich zu Fall gebracht. Diese hatte er aus einer nichtöffentlichen Vorstandsrunde am Donnerstag vergangener Woche einem Spiegel-Journalisten geschrieben – entgegen einer Absprache, dort nicht mit der Presse zu kommunizieren: „Der König ist nicht tot! Und weigert sich weiterhin, zurückzutreten.“ Vom Vorstand zur Rede gestellt, bestritt Semken die Mail zuerst. Dienstagnacht räumte er sie dann doch ein und trat zurück. Äußern will er sich dazu nicht mehr. Die „glatte Lüge“ sei „eine der schlimmsten Sünden, wenn man sich Pirat nennt“, schreibt Semken nur noch auf seinem Blog. Er hoffe, dass sich „der von mir angerichtete Schaden in Grenzen hält“.

Der Rücktritt ist das Ende eines Missverständnisses. Schon die Wahl Semkens zum Landeschef im Februar hatte in der Partei viele überrascht. Langjährige Mitglieder hatten mit der damaligen Schatzmeisterin Katja Dathe als neuer Vorsitzender gerechnet, die Basis entschied anders. Semken vergrätzte nach dem Votum zuerst die Piraten-Fraktion im Abgeordnetenhaus, über deren Arbeit er sich „nicht begeistert“ äußerte. Dann verprellte er Neonazi-Gegner, die er als eigentliches Problem der Partei bezeichnete. Später irritierte er, indem er sich als „Linksextremisten“ bezeichnete. Einflussreiche Parteimitglieder forderten schon im April Semkens Rücktritt, da er „offensichtlich komplett überfordert“ sei.

Die „glatte Lüge“ sei „eine der schlimmsten Sünden, wenn man sich Pirat nennt“

Der nun erfolgte Rückzug überraschte die Partei dennoch. Noch am Dienstagabend hatte sich der Vorstand in einer öffentlichen Sitzung hinter Semken gestellt. Fraktionsgeschäftsführer Martin Delius nannte den Rücktritt nach dem neuerlichen Vorfall aber „folgerichtig“. Semken habe sein Amt „eher unglücklich“ ausgefüllt. Auch Bundeschef Bernd Schlömer sagte, Semken habe die „richtigen Schlüsse“ gezogen. Er hoffe, „dass dieser mutige Schritt für Ruhe im Berliner Landesverband sorgen wird“.

Den Eindruck einer Krise wollte man dort tunlichst vermeiden. Auf der Sitzung am Mittwochabend bekannte der vierköpfige Restvorstand unverblümt, dass nach Semkens Rücktritt „viel Energie“ frei werde, die „in den letzten Wochen intern verbraten wurde“. Geschäftsführer Delius betonte, dass der Vorsitz nur formal wichtig sei: „Wir sind eine Open-Source-Partei, bei der alle mitmachen.“ Auch Semkens Vorgänger Gerhard Anger nannte eine Krise „Quatsch“. Der Landesverband, zuletzt von 900 auf 3.450 Mitglieder gewachsen, sei motiviert wie lange nicht.

Offen bleibt dennoch die Nachfolge Semkens. Am Mittwoch sprachen sich die 40 Piraten dafür aus, die für September geplante Neuwahl des Landesvorstands beizubehalten. Auch auf der Meinungsplattform Liquid Feedback stimmt eine Mehrheit bisher dafür. Der Vorstand will bis zur Neuwahl ohne Vorsitzenden weiterarbeiten. Semken bietet sich für die Basisarbeit an. Vor seiner Wahl zum Vorsitzenden führte er Neulinge in die Partei ein, war Experte für IT und Logistik. Dort wolle er sich nun wieder einbringen, ließ er verlauten – wenn die Partei dies noch wünsche.