DRAUSSEN, ZIELLOS
: Die Frau vor mir

Sie schien ganz weit weg zu sein

Es war halb zehn, und weil die Sonne schien, war es Zeit, mit dem Sommer zu beginnen, also nicht, wie normal, Espresso aufzusetzen und ein Toastbrot zu essen und rauchend am Schreibtisch rumzuhängen, sondern rauszugehen und Kaffee zu trinken. Das Café liegt nahe. Vor mir ging eine Frau, ganz langsam. Es war klar, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war klein, schlank, hatte lange blonde Haare, einen graublauen Kapuzenpullover. Ihre Jeans waren zwei Nummern zu lang. Als ich sie überholte, schaute ich sie kurz an. Ihr Gesicht war ganz grau irgendwie. Ich tippte auf kaputte Drogen. Früher war sie mal schön gewesen; nun sah sie fertig aus. Ziellos, mit gesenktem Kopf ging sie auf dem sonnigen Bürgersteig. Ich ging ins Café, setzte mich ans Fenster, ass ein Croissant und beobachtete sie. Wie sie am Zebrastreifen wartete, unschlüssig, ob sie weitergehen oder lieber stehen bleiben solle. Die Autos hielten, sie blieb stehen, 20 Sekunden, in denen unklar war, ob sie die Straße überqueren wollte oder nicht. Das Auto wartete. Dann ging sie doch, ganz langsam, zögernd, bis in die Mitte der Straße. Wartete wieder. Ging zurück. Blieb stehen. Zwei- oder dreimal Male umkreiste sie die Straßenkreuzung, während ich meinen Kaffee trank. Immer ganz langsam. Dann ging ich hinaus, um zu rauchen. Mit gesenktem Kopf stand sie neben einem Poller. Zwei Meter von ihr entfernt stand eine junge Mutter mit rosigem Gesicht und zwei Kindern. Sie schien von niemandem Notiz zu nehmen. Ich rauchte, überlegte, ob ich sie ansprechen sollte. Ich ging zu ihr, fragte, ob ich ihr helfen könne. Sie murmelte kurz etwas undeutlich, eher ein Laut als ein Wort; sie schien ganz weit weg zu sein. Ich ging zurück. Sie war nicht in Gefahr; die Autos fuhren hier sehr langsam. Dann ging ich nach Hause. Im Treppenhaus waren die Fenster weit offen. Es roch noch ein bisschen nach Gras.

DETLEF KUHLBRODT